„Das ist eine krasse Geschichte. Wie kann man denn gute Menschen zu bösen machen? Medikamente? Folter?“
„Ja, so in etwa. Er hat seine Opfer seelisch und körperlich gefoltert. In den alten Unterlagen ist ein Schriftstück des Pathologen, das die ganze Grausamkeit zeigt. Ich weiß, dass Sie ins Archiv gehen und nachforschen werden. Darum habe ich Ihnen einen Ausweis machen lassen, der Ihnen freien Zutritt gewährt.“
Professor Bimberger lächelte.
„Und wenn Sie das getan haben, möchte ich, dass Sie den Park mit dem Haus und all ihren Gedanken dazu malen.“
„Aber …“
„Sie malen Porträts, das weiß ich, und diese sind besonders. Aber ich glaube, es gibt nur einen Menschen in diesem Raum, der die Stimmung von damals einfangen kann.“
„Warum soll ich das tun? Sagten Sie nicht, dass die Menschen keine Erinnerung an diese Geschichte wollen? Nachher hassen sie mich!“
„Die Bilder wird der psychiatrischen Abteilung zur Verfügung gestellt. Es gibt eine kleine Gruppe, die den Fall nochmal aufrollt. Unter psychologischen Gesichtspunkten, und dafür gibt es einen Grund.“
„Welchen?“, hauchte Kira aufgeregt.
„In diesem Jahr werden wieder junge Menschen vermisst und einer wurde tot aufgefunden.“
„Oh mein Gott. Sie denken …“
„Ich denke nichts. Der Professor, der der Polizei bei den Ermittlungen zur Seite steht, ist ein guter Freund von mir. Sie vermuten, dass es ein Nachahmungstäter ist, denn bei den Toten gab es Spuren derselben Medikamente, die damals verabreicht wurden. Obwohl der Student an einem Herzinfarkt gestorben ist, vermutet man einen Zusammenhang. Mein Freund fragte mich, ob ich nachforschen kann, aber ich denke, Sie können das besser als jeder andere.“
„Okay, ich … ich muss … darf ich noch darüber nachdenken?“
Professor Bimberger sprang auf.
„Ja natürlich, Kira, überschlafen Sie es und teilen Sie mir morgen Ihre Entscheidung mit.“
Jetzt sah er so traurig aus, als rechnete er mit ihrer Absage. Kira verabschiedete sich und lief wie in Trance heim, nachdem sie ihre Sachen aus dem Atelier geholt hatte. Die verwunderten Blicke der vier anderen Studenten hatte sie nicht wahrgenommen. Auch hatte sie sich nicht verabschiedet.
Zuhause saß sie mit angezogenen Knien auf der Couch und grübelte. Warum sie? War es eine Ehre, so etwas zu tun? Wollte und konnte sie sich darauf einlassen? Was sprach dagegen, was dafür? Sie holte den Ausweis aus der hinteren Jeanstasche und sah ihn an.
„Archiv … Kira Krickel, unbeschränkter Zugang.“
Was würde sie dort finden? Was, wenn sie das nicht aushalten würde und Alpträume bekäme? Sie überlegte mehrfach abzulehnen, aber weil sie sich nicht entscheiden konnte, zog sie sich an und machte sich auf den Weg zu Mariella.
„Großvater?“
Alexandro hatte die Tür zum Schlafzimmer leise aufgedrückt und sah zum Bett. Er trat näher und schaute seinen Großvater, dessen graues Gesicht still und entspannt auf dem weißen Kissen ruhte, voller Liebe an. Ein Kranz aus weißen Haaren umrahmte eine Glatze, die wie poliert aussah. Die Sommersprossen hatte der Großvater an seine Tochter weitergegeben. In Alexandros Erinnerung hatte er immer versucht, die Sommersprossen seiner Mutter zu zählen, bis sie ihn so gekitzelt hatte, dass er lachend von ihrem Schoß rutschte.
Er setzte sich auf den Sessel neben dem Bett. Immer, wenn sein Großvater so ruhig dalag, befürchtete er, dass er zu spät kam. Aber jetzt sah er, wie sich die Bettdecke leicht hob und senkte und die Erleichterung stellte sich rasch ein. Was sein würde, wenn der Tod den Großvater holte, konnte und wollte er sich nicht ausmalen. Gregor Liebert war krank, todkrank, ein bösartiger Knochenkrebs fraß den alten Mann von innen her auf. Es war schlimmer geworden seit dem Unfall.
Eine Welle von Traurigkeit rollte über Alexandro hinweg, als er an den Tag vor dreizehn Jahren dachte. Er hatte die Ferien bei seinem Großvater verbracht und mit ihm Museen und Konzerte besucht. Es waren die schönsten Ferien seines Lebens gewesen, bis eines Abends die Polizei vor der Tür stand. Sie waren mit dem Großvater in die Küche gegangen. Ein paar Minuten, nachdem sie das Haus verlassen hatten, rief Gregor seinen Enkel zu sich und nahm seine Hand. Alexandro hatte die Tränen in den Augen des Großvaters gesehen und gespürt, dass etwas Schreckliches geschehen war. Dann hatte er zugehört und ernst genickt.
„Und sie kommen nie mehr wieder?“
„Nein, sie kommen nie mehr wieder.“
Alexandros Leben hatte sich daraufhin rasant verändert. Gregor hatte ihn zu sich genommen und sich liebevoll um ihn gekümmert. Sie gingen regelmäßig auf den Friedhof und nachdem der Junge seinen achtzehnten Geburtstag mit Freunden gefeiert hatte, rief der Großvater ihn noch in der Nacht an sein Bett. Er erzählte ihm vom Krebs, der sich rasch ausbreitete. Das hatte Alexandro erschüttert, obwohl er schon gesehen hatte, dass sein Großvater unter großen Schmerzen litt. Immer öfter war der alte Mann ans Bett gefesselt gewesen. Eine Chemotherapie hatte mit dem ratlosen Kopfschütteln des Arztes geendet.
Was ihm sein Großvater in dieser mondhellen Nacht noch offenbarte, hatte Alexandro vollends aus der Bahn geworfen. Bis zum Morgen hatte er im Zimmer seines Großvaters am Fenster gestanden und dessen Worten gelauscht, die so ungeheuerlich waren, dass alles nur ein Traum sein konnte.
Am nächsten Morgen hatte er in sich gespürt, dass alles der Wahrheit entsprach. Er hatte in den Spiegel geschaut und die Veränderung seiner Augen gesehen. Sie waren schon immer blau gewesen, aber dieses besondere Strahlen war neu. Dann hatte ihm der Großvater eine Brille mit getönten Gläsern übergeben.
„Sie gehörte mir und du musst sie am Anfang tragen, wenn du die Kräfte noch nicht steuern kannst. Ich weiß, dass sich dein Leben ändern wird, doch du bist nun mal auserwählt, dieses Erbe anzutreten. Deine Mutter hatte ihren Partner und geliebten Ehemann gefunden und sie waren bereit, gegen das Böse zu kämpfen, aber sie sind nicht mehr da, darum bist du jetzt an der Reihe.“
„Kann ich das Erbe ausschlagen?“, hatte Alexandro gefragt, obwohl er im gleichen Moment wusste, dass er es weder konnte noch wollte.
Die Worte, die sein Großvater gesprochen hatte, waren groß und bedeutend gewesen und wenn das Wohl der Menschheit davon abhing, dann gab es kein Zurück.
„Du kennst die Antwort. Ich weiß, mein Junge, dass es eine große Aufgabe ist, doch die Bösen werden mehr, also wirst du gebraucht. Es geht auch nicht darum, ob du es möchtest oder nicht, es ist einfach so: Du bist ein Kämpfer für das Gute. Jetzt weißt du es also. Ich werde immer an deiner Seite sein, wenn auch nur noch mit Ratschlägen und als Zuhörer für deine Sorgen und Nöte. Ich werde nicht mehr selbst kämpfen können.“
Jetzt bewegte sich der Großvater und öffnete die Augen. Er sah seinen Enkel an und lächelte.
„Na, mein Junge, ist schon Nachmittag?“
„Nein, ich habe Mittagspause und dachte, ich verbringe sie zuhause. Ich wollte dir noch ein bisschen Gesellschaft leisten.“
„Das ist lieb von dir. Kannst du mir bitte ein Glas Wasser eingießen?“
Alexandro tat es und half ihm sich aufzusetzen, um ihm das Glas an den Mund zu halten. Gregor Liebert trank gierig, leckte sich dann die Lippen und lehnte sich in die Kissen, die ihm Alexandro in den Rücken gestopft hatte.
Alexandro hatte die Zeitung mitgebracht und schaute jetzt auf die erste Seite. Die Schlagzeile ließ ihn erschaudern.
„Es ist schon wieder jemand verschwunden, Großvater.“
Der alte Mann riss die Augen auf.
„Was sagst du da?“
„Ein Student, ich kannte ihn vom Sehen. Die Polizei war da und in der Zeitung steht, er ist schon der vierte Vermisste in diesem Jahr.“
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