Gerade als die drei Agnes und den anderen Kindern ins Haupthaus folgen wollten, rief jemand aus der Menge:
„Da seht! Der Herr hat Erbarmen mit uns!“
Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach oben und alle wandten ihre Köpfe zum Himmel.
„ Ein Wunder!“, rief einer.
„ Der Herr hat unsere Gebete erhört!“, schrie ein anderer.
„ Heilige Muttergottes!“, rief eine Frau, schlug ein Kreuz und weinte.
Andere umarmten sich und hüpften auf der Stelle.
Dann begann es zu regnen.
Heinrich starrte in den nächtlichen Himmel, der mit tiefschwarzen Wolken verhangen war und wurde fahlweiß. Zwischen der Dunkelheit erwachte eine pulsierende, zuckende Helligkeit zum Leben und formte sich zu einer Frauengestalt mit wehenden Haaren, gehüllt in ein langes, weißes Gewand.
„Gertrud“, Ihr Name war kaum mehr als ein Hauch, der über Heinrichs Lippen kam.
Blitze zuckten und schufen ein wirres Durcheinander von Farben, in dem Gertruds Gestalt wie eine Insel der Ruhe mitten am Himmel stand. Sie lächelte.
Heinrich fühlte, wie ihm dieser Anblick die Kehle zuschnürte und die Welt ein Stück zurücktrat. Alles rund um ihn verstummte und verlangsamte sich. Überdeutlich vernahm er dann die Stimme Gertruds vom Himmel herab.
„ Erinnert Euch an unseren Stein! Nur seine Macht kann euch vor dem Bösen schützen!“
Heinrich zuckte zusammen und sah sich verstohlen um, doch Franziska starrte nur mit rot geweinten Augen auf die brennenden Reste ihres Hauses. Die Kinder und auch sonst niemand außer ihm schien die Gestalt am Himmel wahrzunehmen. Heinrich schaute wieder hoch und plötzlich waren die bunten Lichter überall. Gertruds langes Haar strebte auseinander und wirkte wie goldene Flammen, die in einem rhythmischen Auf und Ab den ganzen Himmel in Brand setzten.
Danach begann sich Gertruds Gestalt langsam aufzulösen, ihr Lächeln verblasste und sie verschwand hinter dem dichten, schwarzen Wolkenband, das den nächtlichen Himmel überzog.
Wieder zuckten Blitze durch die Nacht und rissen Heinrich aus seiner Starrheit. Der Wind peitschte den Regen in die Gesichter der Menschen, Regenböen fegten über den Burghof und die Flammen wurden kleiner und kleiner, bis sie ganz erstarben.
Aber alle jubelten vor Freude und tanzten im Regen.
Nur Heinrich nicht. Er konnte nicht fassen, was da geschah.
Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck großer Verwirrtheit. War er gerade dabei, verrückt zu werden? Wieder war ihm Gertrud erschienen und hatte zu ihm gesprochen. Sie hatte den Stein erwähnt- ihren Stein. Nein, das war kein Streich seiner überreizten Fantasie. Sie hatte den Regen gebracht und die Burg samt ihren Bewohnern vor großem Unglück bewahrt. Es war, als hielte die Gräfin von Falkenstein noch im Tode ihre schützende Hand über ihr einziges Kind und der Liebe ihres Lebens. Heinrich blickte zum Schlossturm hinauf, der wie ein dunkler Fingerzeig in den Himmel ragte. Darüber zuckten Blitze und ihr kurzer, greller Saum blendete ihn. Seine vom Regen durchnässten Kleider klebten an seiner Haut und er ballte die Hände zu Fäusten. Eine beunruhigende Vorahnung machte ihm klar, dass dies der Anfang eines langen, beschwerlichen Weges war. Er stand da und starrte auf den Trümmerhaufen, der einst sein Haus gewesen war, Franziska und die Kinder schweigend neben ihm.
„ Wer oder was dies alles verursacht hat, bei Gott, ich werde es herausfinden“, flüsterte er.
NEUER ANFANG
Heinrich versammelte alle im Rittersaal und befahl ein Feuer anzuzünden.
Erst jetzt bemerkte er, dass es allmählich zu tagen begann.
„ Agnes, Margarete! Richtet für alle einen warmen Brei und heiße Honigmilch für die Kinder“, befahl er.
Die Köchin und ihre Tochter machten sich sofort an die Arbeit.
Auch der Graf war aufgewacht und in den Saal gekommen. Er erteilte die Erlaubnis ein Fass starken Weins zu öffnen und bediente sich als erster daran. Bald waren alle versorgt und Heinrich verließ den Rittersaal.
„ Wartet auf mich, Heinrich!“, rief Bertram ihm nach und folgte ihm.
Es hatte aufgehört zu regnen und durch den grauen, mit Wolken verhangenen Morgenhimmel versuchte die Sonne durchzubrechen. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, stiegen die beiden Männer die Wendeltreppe des Wehrturms hinauf. Oben angekommen, atmete Heinrich tief durch. Ein leichter Luftzug ließ den Schweiß auf seiner Haut eiskalt werden und jagte ihm einen kurzen Schauer über den Rücken. Tausend Gedanken schwirrten in seinem Kopf und er stützte sich mit den Händen auf die Zinnen. So oft schon hatte er hier oben gestanden, ratlos oder verwirrt und jedes Mal hatte er durch diesen atemberaubend schönen Ausblick wieder neue Kraft geschöpft. Ungehindert konnte er seinen Blick über das Gebiet schweifen lassen und wie immer beschlich ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Überall erstreckten sich wilde Wälder und Auen und die Donau bahnte sich mit ihren zahlreichen Nebenarmen einen natürlichen Weg durch diese märchenhafte Landschaft. Der Bisamberg, Endpunkt der Ostalpen und die kleine, donauseitig gelegene Ortschaft (Lang) Enzersdorf, waren schon vor langer Zeit seine Heimat geworden.
Heinrich seufzte tief.
Er fühlte die kühle Luft vom Wald her und Morgentau lag auf dem hohen Gras. Zu dieser Stunde erwachte auch gerade auf der anderen Seite der Donau die kleine Stadt Wien. Heinrich wusste, dass sich in weniger als einer halben Stunde die wirren, engen Gassen mit Menschen und Tieren füllen würden, deren Ausdünstungen und Geräusche sich tief in seinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Dem Stadtleben konnte Heinrich nichts abgewinnen. Er war schon in vielen großen Städten gewesen, doch es hatte ihn immer wieder hierher zurückgezogen, auf die Burg Falkenstein.
Hier fühlte er sich wohl. Hier war sein Zuhause.
„Die Nordwand zum Haupttor wird erneuert werden müssen“, brach Heinrich das Schweigen.
„ Die Pechnasen (durch diese wurde heißes Wasser oder Öl auf Angreifer geschüttet) und das Nebentor haben nichts abbekommen. Der Wehrgang muss auch überprüft werden. Ich werde heute noch einen Boten in die Stadt auf den hohen Markt, zu den Zunfthäusern der Steinmetze und Zimmermannleute schicken. Die Mauer und das Haus sollten so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden. Wir brauchen bis zum Winter ein Dach über den Kopf.“
„ Ihr solltet zuerst mit meinem Vater darüber sprechen“, antwortete Bertram.
„ Euer Vater“, seufzte Heinrich und zog verächtlich die Mundwinkel herab.
„ Nach diesem Frühstück wird er wohl kaum in der Lage sein....“
„Vorsicht, Heinrich, ihr sprecht von meinem Vater, dem Grafen Willhelm von Falkenstein“, warnte Bertram.
Er wusste, wie Heinrich über seinen Vater dachte und darum bemühte er sich um einen heiteren Tonfall, als er weiter sprach.
„Er ist immer noch der Herr dieser Burg und ihrer Ländereien. Wir müssen seine Entscheidung abwarten.“
„ Aber das kann Tage dauern“, protestierte Heinrich verhalten.
Heinrich hatte Recht, das konnte Bertram nicht leugnen und er nickte. Längst schon hätte er, der junge Graf von Falkenstein, stellvertretend für seinen Vater, die Rolle des Führers übernehmen sollen, doch er hütete sich davor den Zorn des Greises zu erregen. Der Mann konnte nach wie vor hart und unerbittlich sein. Es war nur der Wortgewandtheit und Diplomatie seines väterlichen Freundes Heinrich zu verdanken, dass das Leben in - und außerhalb der Burg nicht aus den Fugen geriet.
Bertram legte die gekreuzten Arme auf die Zinnen und sah nachdenklich in die Ferne.
„ Wisst Ihr noch?“, nahm Heinrich das Gespräch wieder auf.
„Mit sieben wollte Euer Vater Euch als Page an einen fremden Hof schicken. Ihr wart noch so klein und mager.“
„ Ja, ich weiß,“ murmelte Bertram.
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