Der Minos von Strongyle erhob sich, die Hände auf die Armlehnen des Throns gestützt.
„Ich war sicher, dass du es schaffen würdest. Jetzt aber habe ich einen neuen, noch wichtigeren Auftrag für dich. Der Fortbestand unserer Kultur und unserer Geschichte hängt davon ab.“
„Zu Befehl, Majestät, ich höre.“
Die Miene des Königs verhärtete sich, als er seine Anweisungen erläuterte. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt sprach er zu seinem General. Jedes einzelne Wort, das er aussprach, schmerzte ihn, doch er wusste, es war die Wahrheit, und er hatte keine andere Wahl.
„Wir müssen die wichtigsten schriftlichen Aufzeichnungen aus der Palastbibliothek retten. Das Herzstück unserer Kultur ist in diesen Tafeln verewigt, und der Fortschritt der künftigen Geschlechter hängt von ihnen ab. Die Weissagung hat sich noch nicht erfüllt, doch ich weiß nicht, ob es in unserer Hand liegt sie aufzuhalten. Ich fürchte sehr, dass das Ende unserer Insel bevorsteht.“
Andrion war bestürzt über die Mutlosigkeit seines Herrschers und versuchte, dessen Hoffnungen zu beleben. Heute erschien er ihm menschlicher denn je zuvor; streng, aber nicht so unbeugsam, wie er ihn die ganzen Jahre gekannt hatte.
„Aber wir haben alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, um den Ort zu schützen. Unsere besten Soldaten bewachen Tag und Nacht alle Zugänge. Es ist unmöglich, dass sich die Prophezeiung erfüllt“, versicherte er ihm mit Nachdruck.
Der Minos setzte sich wieder und strich ruhelos die Falten seines Überwurfs glatt. Er bewunderte die Selbstverleugnung und den Mut seines Offiziers. Doch er selbst ließ sich in Wort und Tat weiter von der Weisheit leiten, mit der er sein Volk bisher gelenkt hatte. Eine schwarze Wolke verdunkelte seinen Blick, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Der Fortschritt durch unser großes Wissen und der Wohlstand machten uns überheblich gegenüber der Natur, junger Freund. Gib dich nicht der falschen Hoffnung hin, dass wir den Tod bezwingen und den Lauf der Zeit beherrschen können. Sie bestimmt über den Verfall jeglichen Lebens im Weltall.“ Er hielt inne und blickte ihm väterlich in die Augen. „Der Wert unserer Kultur liegt in der Zeit, die vergeht. Niemand hat die Macht, die Zeit anzuhalten. Wir können den Wettlauf mit dem Sand im Stundenglas der Ereignisse nicht gewinnen …“
Nach seinem anstrengenden ersten Tag gestern auf der Insel erwachte Alexandros frisch und ausgeruht. Als er am Abend zuvor in der Höhlenwohnung angekommen war, die Nikodimos in Ia auf Zeit gemietet hatte, war er nur noch ins Bett gefallen und eingeschlafen. Er hatte es nicht einmal geschafft, seinen Koffer zu öffnen. Nach den Entdeckungen, mit denen er direkt nach seiner Ankunft zu tun bekam, und den Strapazen der Reise war er in einen komaartigen Tiefschlaf gesunken.
Es war Ende Juni. Schon seit dem frühen Morgen erwärmten Sonnenstrahlen die engen Gassen von Ia und begleiteten den Professor und seinen ehemaligen Studenten auf dem Bummel zu ihrem morgendlichen Kaffee. Schon bei seinen ersten Schritten durch die gepflasterten Dorfgassen lief Alexandros der Schweiß herunter. Er hatte sich für ein Hemd aus einem etwas dickeren Stoff entschieden, beinahe ein Winterhemd. Auf die hohen Temperaturen, denen sie ausgesetzt waren, sobald sie aus dem Haus traten, war er nicht vorbereitet. Er war mit den besonderen Eigenschaften, die die traditionellen Höhlenhäuser von Santorin auszeichnen, noch nicht vertraut.
Diese Gebäude bilden die älteste und einfachste Hausform auf der Insel. Sie bestehen aus einem lang gestreckten Raum, der wie eine Höhle aus dem Felsen gehauen wird, mit einer kuppelförmigen Decke und einer schmalen Frontseite. Es ist überliefert, dass die ersten Höhlenhäuser von Schiffsbesatzungen gebaut wurden, die es, um zu überleben, trotzig mit den steilen, rauen Felsen aufnahmen. Diese eigenwillige Architektur bewirkt, dass sich in den Häusern das ganze Jahr über eine niedrige, beinahe konstante Temperatur um die 18 Grad Celsius hält, da die Höhlenwände die Wärme aufsaugen und dauerhaft dieses Gefühl von Kühle erzeugen.
Ohne die besonderen Baumerkmale des Hauses zu kennen, hatte sich Alexandros von dem frischen Raumklima täuschen lassen, das im Zimmer herrschte. Zum Glück gab es zwischendurch auf der Strecke genügend schattige Stellen, und bis zu ihrem Ziel war es nicht weit. Der Professor führte ihn in eines der Touristencafés des Dorfes am Rand des Kliffs. Der Blick auf die beeindruckende Caldera von Santorin war auch der Grund dafür, dass der Kaffee in diesem Lokal das Doppelte des normalen Preises kostete. Nikodimos ging schnellen Schritts als Erster hinein und steuerte auf seinen Lieblingsplatz in der rechten Verandaecke zu. Alexandros folgte ihm, ohne den Tischen ringsum besondere Beachtung zu schenken, als er plötzlich seinen Namen hörte.
„Alexandros, bist du’s?!“
Überrascht wandte er den Blick in die Richtung, aus der die vertraute Frauenstimme kam. Die Morgensonne, noch tief am Himmel, traf ihn direkt ins Gesicht. Er hielt sich die Hand über die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen. Mit Mühe konnte er erkennen, wer nach ihm rief, aber sein Herz begann allein schon beim Klang der Stimme doppelt schnell zu schlagen. Sie stand auf, damit er sie leichter sehen konnte. Dann schob sie ihren Stuhl zur Seite und legte den ganzen Weg zwischen den Tischen zurück, der zwischen ihnen lag, umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange.
Er suchte angestrengt nach den richtigen Worten zur Begrüßung. Doch er brachte keinen Ton über die Lippen, genau wie in den Albträumen, die er als Kind hatte, wenn er mit ganzer Kraft schreien wollte, ihn aber niemand hörte. Er brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu fangen. Afroditi stand leibhaftig vor ihm. Fast zwei lange Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Ihre Neuigkeiten erfuhr er gelegentlich über die wenigen gemeinsamen Freunde, zu denen er jedoch selten Kontakt hatte. Er hatte sich unzählige Male ihre Begegnung ausgemalt und dutzendfach mögliche Dialoge ausprobiert, die seine Gefühle verbergen würden. Doch ohne Erfolg, die vielen Proben hatten offenbar nichts gebracht ...
„Jetzt sag bloß nicht, dass du mich schon vergessen hast?“, übernahm sie, wie immer, die Zügel bei der Gesprächsführung, da die Verwirrung ihres früheren Freundes überdeutlich war. „Gut siehst du aus, wenn auch ein bisschen blass für Santorin. Wahrscheinlich bist du noch nicht so lange auf der Insel.“
Die ersten Wörter formten sich zögerlich in seinem Mund. Zum Glück funktionierten seine Stimmbänder doch noch!
„Ja, genau ... gestern bin ich angekommen ... gerade erst ...“
„Ich freue mich ja so, dich zu sehen! Kommt, setzt euch zu uns, ich will hören, was es Neues bei dir gibt, natürlich nur, wenn dein Freund nichts dagegen hat.“ Afroditi wies mit einer leichten Kopfbewegung in Nikodimos’ Richtung.
Der Professor nahm die Einladung der charmanten jungen Frau freudig an, vor allem aus Neugier, welcher Art ihre Beziehung zu Alexandros war. Dessen unterkühltes und ungeschicktes Verhalten ihr gegenüber hatte er wohl bemerkt. Afroditi führte sie an ihren Tisch.
„Darf ich vorstellen: Takis, mein Verlobter, und sein Cousin Dimitris. Und hier ist Alexandros, ein guter, alter Freund von mir und Herr ...“ Afroditi wandte sich an Alexandros, wobei sie höflich ihre Hand auf den Rücken des Professors legte. „Du hast uns deinen Freund noch nicht vorgestellt, wie heißt er denn?“
Alexandros war zur Salzsäule erstarrt. Er stockte bei seinem Versuch zu antworten. Seine Zunge war wie gelähmt. Dass er Afroditi so überraschend getroffen hatte, damit wurde er ja noch fertig. Doch die neue Information über die Verlobung war der Knock-out für ihn. Der Professor bemerkte Alexandros’ aufgewühlten Zustand und stellte sich eilig selbst vor.
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