1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 „Aber ja, ungefähr 1500 v. Chr. ... Ganz nah am Jahr des Vulkanausbruchs!“ Dieses Mal sprang Alexandros von seinem Sitz auf.
„Ziehen wir vielleicht voreilige Schlüsse? Wir sollten besser nicht vorgreifen und lieber diese unerwartete archäologische Entdeckung ihren Gang gehen lassen.“ Der Dritte in der Runde unternahm einen Versuch, die Ereignisse objektiv zurechtzurücken. Auf die phlegmatische, ruhige Art, die englische Lehrkräfte gewöhnlich auszeichnet, fuhr er fort, seine vorsichtigen Überlegungen auszuführen. „Wir haben bereits zwei Tafeln und es sieht ganz so aus, als ob wir noch mehr finden werden. Tafeln mit wertvollem Material, das übersetzt und entschlüsselt werden will. Wir wollen uns doch nicht an diesem hoffnungsvollen Unternehmen mit unbegründeten und bisher unbewiesenen Theorien vergehen.“
Das Statement von Dr. Howard Donaldson nahm der Diskussion ein wenig von ihrer Hitzigkeit. Die Freunde legten beim Schlagabtausch der Standpunkte eine kurze Pause ein. Alexandros beugte sich vor und bewunderte von oben die Landschaft, die sich zu ihren Füßen ausbreitete.
Dem Vulkan gegenüber lag die Insel Thirasia. Santorin im Kleinformat. Mit den gleichen senkrecht abfallenden Felswänden zum Meeresbecken hin und der flachen Landschaft auf der Rückseite. Die Insel bildet eine natürliche Verlängerung der übrigen ringförmigen Caldera. Rechts von ihr weitet sich das Meer bis zur Westseite von Santorin, wo die Siedlung Ia liegt. Links von Thirasia ist die Meeresöffnung breiter und wird von der anderen Spitze Santorins begrenzt, die in den blendend weißen Häusern des Dorfes Akrotiri ausläuft. In der Mitte dieser Öffnung liegt eine unbewohnte kleine Insel mit dem Namen Aspronisi, so als wollte sich hier die Lücke schließen und das Rund des Vulkankraters wieder in seiner ursprünglichen Form herstellen. In der Mitte dieses Meeresbeckens haben die Lavamassen zwei kleine pechschwarze Inseln gebildet. Die riesenhaften Kreuzfahrtschiffe, die in der Caldera vor Anker lagen, sahen von hoch oben, wo sich ihr Tisch befand, wie winzige Boote aus.
Währenddessen war Alexandros immer noch dabei, die letzten Informationen zu verarbeiten, und er versuchte, in der Theorie des Professors Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches zu trennen. Er gab sich Mühe, sich die Vorlesungen über die Werke Platons wieder ins Gedächtnis zu rufen, die er vor Jahren besucht hatte. Er erinnerte sich an den philosophischen Dialog Kritias und er dachte daran, wie er sich damals anhand der Beschreibungen Atlantis ausgemalt hatte. Platon sprach von einem Hügel in der Mitte einer Insel, die von Meeres- und Landringen umgeben war. Die Insel besaß, wie Platon erwähnte, hohe Steilküsten, die wie Wände aus dem Meer ragten. Die Landringe in der Mitte der Insel waren durch Brücken miteinander verbunden. Die Hauptstadt war in einer Ebene errichtet und von wunderschönen Bergen umgeben.
Er verglich das Bild von Atlantis, das er sich unter dem Einfluss von Platons Worten vorgestellt hatte, mit der Landschaft, die sich jetzt vor ihm ausbreitete. Der ihm eigene kühle Verstand und sein Skeptizismus konnten nicht verhindern, dass er feststellen musste: Es gab Gemeinsamkeiten zwischen beiden Bildern. In der Beschreibung des Philosophen fanden sich viele Angaben, die mit der heutigen Landschaft zusammenpassten.
Doch dann kamen ihm wieder Zweifel. Es gab auch Einzelheiten in der Schilderung, die die Theorie von der Übereinstimmung Santorins und Atlantis’ ins Wanken brachten. Während diese Details Stück für Stück in Alexandros’ Erinnerung zurückkehrten, begann ein neuer Reigen des Zweifelns, mit dem er die Theorie infrage stellte.
„Bei Timaios erwähnt Platon, dass die Stadt am Eingang zu den Säulen des Herkules lag. Er berichtet von einer Macht, die vom Atlantischen Ozean aus angriff, und von einem Kontinent, der die Größe von Libyen und Asien zusammen übersteigt.“
Der Professor war auf die unerwartete Wiederaufnahme der Diskussion nicht vorbereitet. Er brauchte ein paar Augenblicke, um seine Gedanken zu sammeln, die sicher gerade Tausende von Jahren zurück gewandert waren, bevor sein Schüler die Frage stellte. Er wollte einen Schluck Wein trinken, aber sein Glas war leer.
„Mein lieber Freund, ich sehe, du legst deinen Panzer aus Skeptizismus nie ab. Du hast dir nur die Unterschiede herausgesucht und lässt die Gemeinsamkeiten in Platons Beschreibung außer Acht. Nun gut ... Das ist schließlich der Grund, warum du mir schon von Anfang an aufgefallen bist. Du stehst fest mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen!“
Beim Sprechen bedachte er seinen Schützling mit einem nachsichtigen Lehrerlächeln und führte seine Hypothese zu Ende.
„Du vergisst, dass es in der Epoche, von der wir sprechen, nicht einmal im Ansatz die Voraussetzungen zum Kartieren und Vermessen von Inseln oder Kontinenten gab. In der griechischen Antike konnte kein Mensch die Größe Asiens oder Libyens berechnen, auch in der Zeit Platons nicht. Und wenn die alten Griechen Libyen sagten, so meinten sie damit natürlich den ganzen afrikanischen Kontinent. Stell dir vor, um wie viel schwieriger es tausend Jahre vor Platons Zeit gewesen sein musste, damals als der Mythos entstand, die tatsächliche Größe einer Insel oder eines Kontinents objektiv zu berechnen.
Auch die Möglichkeiten der Schifffahrt und der Versorgung mit Proviant schließen es aus, dass in der Zeit, von der wir sprechen, so weite Reisen unternommen wurden, besonders auf offener See bei extremen Wetterverhältnissen ...“
Jetzt war für den Engländer in der Runde der Moment gekommen, die Theorie auf seine Art anzuzweifeln.
„Warum gibt es eigentlich bei Platon in den Dialogen so viele Ungenauigkeiten?“
Der Professor hörte ihm zu, ohne dass sich seine Mimik änderte oder auch nur den Hauch einer Regung zeigte. Es war offensichtlich, dass er sich die gleichen Fragen bereits selbst gestellt hatte und die Antworten parat hielt.
„Vergesst nicht, unter welchen Umständen der Mythos entstanden ist. Platon benutzte ursprünglich eine Geschichte, die ihm sein Schüler überbrachte, um die Größe der Griechen und vor allem der Stadt Athen zu demonstrieren. Der eigentliche Zweck des Dialogs war hervorzuheben, dass die Athener das vordem überlegene Reich Atlantis militärisch besiegt hatten. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass er die Ereignisse und ihre Größenordnung in vielen Punkten übertrieb, um so dem Sieger einen übersteigerten Wert zu verleihen. Er verwandelte eine Insel in einen Kontinent und erhöhte notwendigerweise die Entfernungen, wobei er ihnen mythische Ausmaße gab und die historische Wahrheit verdrehte. Platon lebte im Athen des Peloponnesischen Krieges, einer Zeit, in der die Stadt nach der beschämenden Niederlage gegenüber Sparta mehr denn je moralische Unterstützung brauchte.
Es besteht auch noch die Möglichkeit, dass die Ägypter selbst im Laufe der Zeit die historischen Fakten verzerrten. Wir dürfen außerdem nicht vergessen, dass sie zum Meer immer ein schlechtes Verhältnis hatten und ihre Beschäftigung mit der Seefahrt minimal war. Sie beschränkten sich auf einfache Fahrten mit Kähnen auf ihren Flüssen, vor allem auf dem Nil. Es ist vielsagend, dass sie das Ägäische Meer das Große Grüne nannten. Sie hatten also kaum Kenntnisse über die geografische Lage und die Größe der Inseln, mit denen sie Handel betrieben oder anderen Kontakt hatten.
Mit einem weiteren Detail widerlegt sich Platon selbst bei der Annahme, dass die versunkene Insel im Atlantischen Ozean liegt. Er berichtet nämlich, dass bei der Katastrophe, als Atlantis in nur einem Tag und einer Nacht versank, auch das gesamte Athener Heer unterging. Es ist unmöglich, dass sich eine Naturkatastrophe im Atlantik dermaßen vernichtend auf die geografische Lage Athens hätte auswirken können, ohne dass wir gleichzeitig auch Spuren dieser Katastrophe in den Gebieten hätten, die dazwischen liegen.“
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