1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Alexandros gab sich Mühe, die Menge an neuen Informationen aufzunehmen und zu beurteilen. Sein Rationalismus stand dem Ganzen heftig entgegen. Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer, während er weiterhin hartnäckig an der Theorie zweifelte.
„Doch da ist ja auch noch Aristoteles. Der große Philosoph und bedeutendste Schüler Platons bezeichnete die Erzählung von Atlantis als Hirngespinst.“
„Sehr richtig“, erwiderte Nikodimos mit unerwarteter Begeisterung und fuhr lehrmeisterlich fort: „Aber in der Antike gab es auch eine Schar von Unterstützern für die Glaubwürdigkeit dieser Geschichte. Die nachfolgenden Philosophen Poseidonios, Krantor und Proklos, aber auch der Geograf Strabon, sie alle befürworteten teilweise, dass die Beschreibung von Atlantis auf realen Tatsachen beruht. Was Aristoteles angeht, darfst du nicht vergessen, dass er sich in hohem Maße von vielen Ideen und Thesen seines Lehrers absetzte. Deshalb heißt es ja auch, dass Platon ihn Füllen nannte, ein Fohlen, das seiner Mutter in den Bauch tritt, kaum dass sie es geboren hat.“
Der Professor schien auf alles eine Antwort zu haben. Als er zu Ende gesprochen hatte, nahm Howard den Faden des Gesprächs auf.
„Unter all den Ungenauigkeiten, die der Mythos enthält, müssen wir also die wahren historischen Daten finden. Wir suchen nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Es stimmt schon, dass die Theorie, die du uns erläutert hast, viele solide Grundlagen und rationale Erklärungen hat. Du weißt aber auch, dass ein Mythos viele verschiedene Deutungen zulässt. Ohne Beweise ist jede Theorie denkbar, aber nichts davon ist untermauert. Bevor die Texte nicht sachkundlich und sprachwissenschaftlich analysiert worden sind, ist alles, was wir sagen, nichts als reine Spekulation.“
Alexandros konnte sich der Meinung des peniblen Doktors von der Uni Bristol nur anschließen. Es gibt Dutzende von Beispielen in der Geschichte archäologischer Forschung, die mit großen Erwartungen begannen und am Ende in eine ergebnislose Sucherei ausarteten. Die Theorie war beeindruckend und plausibel, aber die Lücken waren groß.
Natürlich würde der Professor nicht so leicht aufgeben. Er machte sich nicht mit dem Feuereifer eines Sammlers an die Arbeit, sondern mit der ruhigen Sorgfalt des Handwerkers, der die Ärmel hochkrempelt, um die Teile eines zerbrochenen Gefäßes zusammenzufügen. Er war davon überzeugt, dass sie zu den verborgensten Geheimnissen eines Volkes vorgedrungen waren, das vor Tausenden von Jahren in der Geschichte verschwunden war. Er hatte es nicht eilig, er hatte keine Gegner und er genoss die Aussicht auf eine kontinuierliche, tief schürfende Recherche.
„Darum sind wir heute hier, meine Freunde. Die Tafeln, die wir entdeckt haben, bergen vielleicht den Schlüssel zur Wahrheit, nach der wir suchen. Vielleicht verwandeln sie die Stecknadel im Heuhaufen in einen Esel ... Und glaubt mir, den zu finden, wird uns sicher gelingen!“
„Ich werde seine Hoheit den Pharao sofort nach meiner Rückkehr unterrichten, mein Bruder, und dafür sorgen, dass euch so rasch wie möglich Hilfe gesandt wird.“
Er streckte beide Arme aus und legte seine Hände voller Zuneigung auf die Schultern Andrions, der um etliches größer war als er. Die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, besonders in den letzten Tagen, hatte sie in aufrichtiger Freundschaft und gegenseitiger Achtung zusammengeschmiedet. Der junge Priester, der sich als Botschafter auf Strongyle aufhielt, befürchtete, dass sie sich vielleicht nicht wiedersehen würden.
„Hab Dank, Sonchis. Möge Poseidon auf der Heimreise dein Beschützer sein. Ich werde versuchen, dein Schriftgut in Sicherheit zu bringen und es dir dann von Knossos aus zusenden, sobald es möglich ist.“
Der General war gefühlvolle Abschiede nicht gewohnt, und ihm war unbehaglich zumute. Sonchis spürte es und versuchte, sich kurzzufassen. Es war jedoch seine Pflicht, seinen Freund noch einmal zu warnen.
„Andrion, du musst sehr vorsichtig sein. Du weißt, die Weissagung hat sich noch nicht erfüllt. Gib besonders acht, solange du in Akrotiri bist!”
„Um mich brauchst du keine Angst zu haben, mein Freund, die Götter entscheiden, und ich beuge mich immer ihren Beschlüssen.“
Aus seinem Beutel nahm er ein Stück weißen Stoff und gab es dem Priester, zusammen mit seinen letzten Ratschlägen.
„Die giftigen Gase verbreiten sich mit dem Wind in geringer Höhe. Wenn sich die Windrichtung ändert, können sie auch bis zu euch auf das Schiff gelangen. Sieh zu, dass du dein Gesicht bedeckst und dich so gut wie möglich schützt. Sage es auch den Seeleuten weiter. Es gibt Berichte über führerlose Schiffe mit toten oder bewusstlosen Besatzungen.“
„Ich werde mich vorsehen, Andrion. Möge Thoth, der Gott der Weisheit und des Mondes, dich zur sicheren Rettung geleiten.“ Er sprach den Abschiedsgruß mit brüchiger Stimme. Sacht nahm er die Hände von den Schultern seines Freundes und begab sich mit einem kleinen Sprung an Bord des Schiffes, das ihn in die Heimat bringen sollte.
„Pass auf dich auf, Ägypter!”, rief Andrion ihm nach und lächelte schwach wie jedes Mal, wenn er ihn scherzhaft mit dem Namen seiner Herkunft ansprach.
Für kurze Zeit verfolgte er, wie sich das Schiff aus Zedernholz mit dem hohen, spitz zulaufenden Bug, einem ebensolchen Heck und dem tiefen einteiligen Kiel entfernte. Diese Bauart sicherte den Schiffen von Strongyle zusätzlichen Schutz vor den Wellen. Sonchis setzte sich vor den rechteckigen Aufbau der Kapitänsbrücke, direkt unter den aufrecht stehenden Steuermann, der den doppelten hölzernen Ruderarm mit fester Hand führte. Etwas weiter unten hatten vor ihm die fünfzig Männer begonnen, gleichzeitig die Ruder in den Dollen zu bewegen, während vier Matrosen das farbenfrohe viereckige Segel am mittleren Mast hissten. Die Dollen, eine Halterung für die Ruder, waren eine Erfindung der minoischen Seeleute. Das Rudern ging dadurch leichter und machte die Schiffe schneller, was entscheidend zur Überlegenheit der minoischen Flotte beitrug. Die Befehle an alle Kapitäne lauteten, aus ihren Schiffen die höchste Geschwindigkeit herauszuholen. Niemand konnte genau wissen, wie groß der Sicherheitsabstand zur Insel sein musste.
Nachdem Andrion sich vergewissert hatte, dass sein Freund gefahrlos auf dem Heimweg war, bestieg er rasch sein Pferd und ritt im Galopp zur Hauptstadt. Die dringenden Befehle aus dem Palast zwangen ihn, die Aufsicht über das Einschiffen der Bevölkerung vorzeitig abzubrechen. Vor seinem Aufbruch aus Akrotiri hatte er noch dafür gesorgt, Theomenes, einem seiner besten Offiziere, den Oberbefehl zusammen mit den entsprechenden Anweisungen zu übergeben. Auf der ganzen Strecke kamen ihm verstreute Gruppen seiner Mitbürger entgegen. Sie liefen neben Pferdewagen her, auf die sie ihre wertvollsten Besitztümer geladen hatten. Ebenfalls beförderten sie damit Verletzte und andere, die keine weiten Wege laufen konnten. Schweigend zogen sie vorüber. Er erkannte die ausdruckslosen Gesichter von Menschen, die auf der Flucht sind. Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung zeichneten sich auf ihnen ab und dazu die Ungewissheit über das, was ihnen der morgige Tag bringen würde.
Er ritt über die erste Brücke und kam zum Landring, der zwischen der Hauptstadt von Strongyle und dem Rest der Insel lag. Dieser von Meer umgebene natürliche Ring lag zwischen der Stadt und der äußeren Insel und verband sie an vier sorgfältig ausgewählten Stellen durch jeweils zwei Holzbrücken. Das Meer in der Bucht veränderte unaufhörlich seine Farben. Von giftgrün wurde es rötlich und danach hellgelb. Ein übler Geruch stieg aus den Tiefen des Wassers auf. Als er zum Ende der zweiten Brücke ans Ufer der Hauptstadt kam, bot sich ihm ein grauenhafter Anblick. Leichen lagen aufeinandergehäuft auf dem unbebauten Gelände vor dem zerstörten östlichen Hafen wie Seelen, die zum Trocknen ausgebreitet waren. Es war das Bild des Todes selbst. Der Wind trug ihm den schweren Geruch des Blutes zu, das die Erde getränkt hatte. Wenn die Zeit und die Erdbeben es erlaubten, würden Arbeiter auf Befehl des Minos von Strongyle die Begräbnisse der Leichen an Ort und Stelle vornehmen.
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