1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Von Zweifeln geplagt, wiegte Kervizic den Kopf. "Sowie sie unsre Flucht entdeckt haben, ist hier der Teufel los. Man wird den letzten Winkel Nouméas nach uns durchstöbern."
Brissac legte .den Finger an die platte Nase. "Das sollen sie ja gerade. Dann haben sie sich morgen Abend ausgetobt und glauben, ihr seid längst über alle Berge. Dabei habt ihr außerhalb der Stadt im Dickicht, in irgendeiner Höhle oder einem Maisfeld den Abend abgewartet."
Die Freunde schwiegen unentschlossen. Grousset knurrte der Magen, ein Hungeranfall machte ihm die Knie weich, sein Gehirn assoziierte das Wort Mais mit anderen Früchten des Bodens, und scheinbar zusammenhanglos erklärte er, dass er notfalls auch rohe Kartoffeln essen würde.
"Morgen nach Dunkelwerden kommt ihr wieder zur Treppe. Im Mauerwerk dahinter sind Löcher und Nischen. Für den Fall, dass wir uns verpassen sollten, hinterlege ich, was ich auftreiben kann, und auch, wann wir auslaufen werden - sollte das Datum inzwischen bekannt sein." Brissac hob die Schultern. "Was Besseres weiß ich nicht."
Kervizic, dem ihr Plaudern schon zu lange gedauert hatte, bekräftigte: "Also ab durch Nouméa und hinein in die nahrhafte Landschaft."
Die Freunde wollten eben die Treppe hinauf, als Brissac etwas einfiel. "Einen Augenblick!" rief er und kramte in seiner Hosentasche, darauf legte er Grousset einige Geldstücke in die Hand. "Mehr habe ich leider nicht bei mir, aber für Brot und Speck reicht es erst mal."
Ein wenig gerührt, dachte Grousset, zu dumm, dass nachts kein Laden geöffnet hat. Kervizic war nicht weniger beeindruckt von der kameradschaftlichen Geste. Er stand neben Grousset, sie sahen zu, wie Brissac niederkniete und Kenton den Puls fühlte.
"Er schläft noch", sagte der Bootsmann, „hoffentlich träumt er schlecht." Energisch stieß er das Boot ab. "Bis morgen Abend!" Er spuckte sich in die Hände, packte das Ruder und wriggte davon.
Vom Unglück, nicht füsiliert worden zu sein (Aus dem Tagebuch des Paschal Grousset)
Gibt es einen verlässlicheren Freund als das Tagebuch? Wer brächte so viel Langmut für Abrechnungen mit sich und den andern auf; wer hätte so viel Geduld für die Bekenntnisse, Gedanken- und Erinnerungen eines Abenteurers wider Willen? Ich, Paschal Grousset, -Pamphletist und verhinderter Romancier, Zeitungsschreiber und Kommunard, würde ersticken, könnte ich nicht schreiben. Dieses zerflederte Bändchen ist mein einziges Kapital, gut für etliche Novellen und Romane. Allerdings würde enttäuscht sein, wer einen chronologischen Abriss vom Entstehen und Untergehen der Pariser Kommune erwartete oder, den Bericht eines Barrikadenkämpfers. Ich habe nicht mit der Waffe in der Hand gekämpft. Was ich bei Verhaftung, Verurteilung und Verbannung erleben musste, lässt mich das nachträglich bedauern. Das Grundthema meiner Aufzeichnungen ist sehr persönlicher Art, in und zwischen den Zeilen ist häufig zu lesen: Manon. Bei meiner Verurteilung stand sie in Gedanken neben mir und flüsterte beschwörend: Kein Trauern über tote Zeit! Nutze sie, deine Flucht zu betreiben. Für immer ohne dich, Paschal, kann ich nicht leben.
Ich, ein Mann von siebenunddreißig, balle nachts manchmal die Fäuste in ohnmächtiger Wut. Durch Manon wurde mir schmerzhaft bewusst - und die Einsamkeiten während der Verbannung vertieften das Gefühl: die Erde wäre ein toter Planet, gäbe es die Liebe nicht.
Weil ich die höchsten Höhen erleben durfte, fluche ich denen, die uns trennten, und denke manchmal, was wäre mir erspart geblieben, wäre auch ich an der Mauer der Föderierten erschossen oder mit den Kameraden in der Ebene von Satory umgebracht worden. Auf die Barrikade zu gehen ist tapfer, wie viel Tapferkeit aber gehört dazu, eine Niederlage durchzustehen? Nur Hoffnung auf Vergeltung hält die meisten deportierten Kommunarden in Neukaledonien aufrecht. Unser Herz gehört dem vergewaltigten Paris, dem betrogenen Frankreich, wer uns aus dem Mutterboden riss und über zehntausend Meilen weit hinter die Wasserwüste des Stillen Ozeans fortschaffen ließ, wie groß muss dessen Furcht vor uns sein. Die kleinen Wachsoldaten und Beamten der korrupten Verwaltung verachten wir, unser Hass gilt den Schlächtern in Uniform und Zivil. Sage niemand, aus mir spreche nur die Verbitterung des Geschlagenen. Wir sind historisch im Recht, also auch moralisch. Der Fortschritt wäre keine ethische Kategorie, gäbe es nicht den ständigen Kampf der Fortschrittlichen gegen das Gestern. Die Gewalt des Gestern schlägt zu, wenn aus dem Traum Wirklichkeit zu werden droht.
Kaum glaublich, dass ich den Versailler Söldnern in Paris selbst entkommen konnte, bald darauf aber dennoch zum Heer ihrer Gefangenen gehörte. Vierzigtausend Verhaftete, soll man sie erschießen oder amnestieren? Beides wurde von seriösen Zeitungen vorgeschlagen. Die Regierung, ständig assistiert von ihrer servilen Nationalversammlung, wählte für einen Teil der Gefangenen den goldenen Mittelweg: langsamer Tod vermittels Deportation. Über hundert höhere Offiziere erhielten den Auftrag, achtzehn Kriegsgerichte zu bilden. Die Versailler Kriegsgerichte brachten Tausenden das Schaudern bei. Exakt funktionierten sie, eine zuverlässige Maschinerie, bis der letzte Angeklagte verurteilt war. Deportation, angedroht als Strafe für den "Angriff auf die Regierung", wurde zum Synonym für Trostlosigkeit. Für einfache Deportation hatte man die Ile de Pins ausersehen, die Halbinsel Ducos für Deportation nach einem befestigten Platz. Insel wie Halbinsel gehören zum französischen Kolonialbesitz Neukaledonien, für den nun auffällig die Trommel gerührt wurde. In offiziellen und offiziösen Publikationen hieß es, die Deportierten würden ein reiches Land betreten, in relativer Freiheit leben, lohnende Arbeit bekommen, sie könnten dort Wohlstand und Glück finden. Sofern sie es wünschten, würde man ihre Familien auf Staatskosten nach Neukaledonien schaffen; falls sie noch ledig seien, würden sie bei der Familiengründung unterstützt. Der parlamentarische Berichterstatter zum Gesetz über den Vollzug der Deportationen, Monsieur de Haussouville, begrüßte vor der Versailler Nationalversammlung in dieser Zwangsauswanderung die Anfänge eines neuen französischen Reiches an den Gestaden des Stillen Ozeans.
Verurteilt zur Deportation nach einem befestigten Platz - der Halbinsel Ducos -, wurden wir in Viehwaggons gepfercht und kamen nach tagelanger, qualvoller Eisenbahnfahrt in Brest an. Von dort brachte man uns zum Fort Boyard, einem Turmbau, der, auf einer Sandbank errichtet, nur bei Flut mit Booten zu erreichen ist und schon lange ohne Besatzung war. Wir gehörten zum ersten Transport und kamen an einem kalten Oktobertag an, mit uns der Gefängnisdirektor und die kleine Garnison der Wachsoldaten. Zu Trupps von je zehn Mann trieb man uns in die Kasematten. Es gab keine Schlafgestelle, keine Matratzen, nicht einmal etwas Stroh für unsere maladen Körper. Lediglich alte, verrostete Kanonen standen herum. Weder lässt es sich auf einem Kanonenrohr schlafen, noch vermag man damit Suppe zu löffeln, die uns in einem Trog gebracht wurde. Wir weigerten uns, wie die Schweine zu essen, und hungerten bei unserer kargen Ration Schiffszwieback. Nach zehn Tagen zahlte sich unsere Beharrlichkeit aus. Der Gefängnisdirektor hatte in Versailles angefragt und die Erlaubnis erhalten, uns Löffel auszuhändigen, da dieselben nicht als Waffen zu betrachten seien.
Alle eingehende Post war selbstverständlich geöffnet. Nur einmal jeden Monat war es gestattet, einen Brief an Familienangehörige zu schreiben. Unsere Korrespondenz wurde zensiert und nicht selten zurückgehalten. Doch jeder Brief, der endlich zu uns gelangte, bedeutete Wärme und Licht im kalten Kerker. Wir litten unter der Kälte noch mehr als unter der Enge. Die Abteilungen in den Gitterkäfigen der Kasematten waren samt und sonders überbelegt, heftig ersehnten wir jeden Tag die halbe Stunde frische Luft, und die Beine vertreten auf dem Plateau des Forts, obwohl es auch dort so eng war, dass wir im Kreisgang dicht hintereinander laufen mussten. Nach drei Monaten bekamen wir Matratzen, die meisten von uns litten inzwischen an Rheuma. Wieder nach drei Monaten, im März zweiundsiebzig, erfuhren wir von unserer baldigen Abreise und dass jeder ein Gnadengesuch einreichen könne. Wir vereinbarten, diese Art Milde zu ignorieren. Nun wurde, aus dem Kann ein Muss. Jeder hatte einzeln vor dem Gefängnisdirektor zu erscheinen, um die persönlichen Gründe für sein Gnadengesuch darzulegen, dass dann von der Versailler Gnadenkommission geprüft werden sollte. Was wir vermutet hatten, erwies sich als wahr. Es handelte sich um ein neues Manöver, ausgeheckt für die Öffentlichkeit: Seht, wir haben sogar eine Kommission eingesetzt, die jede Bitte um Gnade prüfen wird! Gerechter geht es nicht!
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