Glücklich lächelt Mari übers ganze Gesicht, denn da fallen ihr schon so einige Erdenmenschen ein, die diese Botschaft dringend benötigen. Und sie darf sie überbringen, etwas Schöneres kann sie sich nicht vorstellen.
Als die Sterne zu funkeln beginnen, wird es Zeit für Mari, ihren Liebsten noch einmal zu küssen und sich für dieses Mal zu verabschieden. Doch beide wissen, es wird nicht lange dauern, bis sie sich wiedersehen, und so steht Mari auf, dreht sich lächelnd noch einmal zu Tom um, dreht sich, dreht sich schneller, bis sie sich in einem strahlenden Sternenwirbel erhebt und aus Toms Blickfeld verschwindet. „Leb wohl, meine Seelengefährtin, auf bald“, flüstert er ihr zärtlich nach.
***
Erdenzeit
Sonja Schulz, die Stationsleitung und erfahrene gute Seele der „Station Sonnenschein“, des Pflegeheims, in dem Mari seit einigen Jahren lebt, nähert sich sachte dem Gartenstuhl, in dem Mari gerade aus ihrem Schläfchen erwacht. Sanft berührt die Altenpflegerin Mari an der Schulter und sagt: „Frau Tannwald, nun wird es aber schon recht frisch hier draußen. Sie haben ein schönes Schläfchen gehalten hier im Garten, aber jetzt sollten wir langsam hineingehen, das Abendessen wird ja schon bald hergerichtet.“
Mari reckt und streckt sich, die Augen hat sie jedoch noch geschlossen. „Frau Schulz, am liebsten möchte ich jetzt meine Augen zulassen und für immer in meinem Traum bleiben ... das war so wunderschön. Sie werden es mir nicht glauben, aber ich habe von meinem Mann, von meinem Liebsten, geträumt, von Tom. Ich habe ihn besucht, dort drüben, auf der anderen Seite, und wir waren beide wieder jung“, seufzt sie ergriffen.
Frau Schulz lächelt versonnen und streichelt die Hand der älteren Frau. Sie betrachtet den glückseligen Ausdruck auf Maris Gesicht und ahnt, dass hier wohl etwas Besonderes geschehen war an diesem sonnigen Nachmittag im Garten.
In ihren langen Jahren im Seniorenheim hat sie schon so allerlei Erfahrung gesammelt, und das nicht nur im gesundheitlichen und pflegerischen Bereich, sondern auch in menschlicher und spiritueller Hinsicht. Dies sind Dinge, über die sie mit den meisten ihrer Kolleginnen nicht spricht, da sie dort nur Unverständnis ernten würde. Zu Mari spürt sie schon seit deren Einzug eine besondere Verbindung und schätzt die alte Dame sehr.
„Das klingt aber wirklich wunderschön, Frau Tannwald. Sie strahlen ja richtiggehend. Erzählen Sie mir ein wenig davon?“
„Sie glauben nicht, wie gerne ich das tue! Ich weiß ja, dass Sie mich verstehen.“
Und sie erzählt der anderen Frau ausführlich von ihren Erlebnissen da drüben in der anderen Welt, von all dem, was Tom ihr anvertraut hat, davon, dass sie nun endlich eine felsenfeste Bestätigung all ihrer Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod erhalten hat, dass sie dies an Menschen weitergeben soll, die dieses Wissen benötigen und, vor allem, wie unendlich glücklich sie ist, nun zu wissen, wohin die Reise gehen wird.
Gebannt hört ihr Frau Schulz trotz all der Arbeit, die noch auf sie wartet, zu, und ihr ist klar, dass dies einer dieser goldenen Augenblicke ist, an die sie sich in den traurigen und schweren Momenten ihres Lebens zurückerinnern wird. Ein Anker, der ihr, und vielleicht auch anderen, Trost bringen wird. Mit Tränen in den Augen umarmt sie Mari und sagt einfach nur „Danke!“
Nachdem sie Mari in den Saal zum Abendessen begleitet hat, steht noch eine Teambesprechung im Stationszimmer an, die sie leiten soll. Kaum sind alle Unterlagen bereit, trudeln die Kolleginnen auch schon ein. Auch Emily ist nach dreiwöchiger krankheitsbedingter Fehlzeit wieder anwesend, sie ist Auszubildende im 2. Lehrjahr und die jüngste im Team.
„Schön, dass du wieder zurück bist, Emily. Du hast uns gefehlt. Ich hoffe, du bist nun wieder gesund und einsatzbereit“, richtet Frau Schulz das Wort an sie.
Emily nickt nur kurz. Sämtliche Ereignisse des Tages werden kurz besprochen, damit alle auf dem aktuellen Stand sind.
Abschließend erwähnt Frau Schulz: „Unsere Frau Tannwald hat mir heute übrigens etwas erzählt, sie hatte wohl einen wunderschönen Traum, dass sie ihrem verstorbenen Mann begegnet ist. Es war toll, dass sie mir das anvertraut hat, und ich möchte euch bitten, dass ihr ihr mit Verständnis entgegentretet, wenn sie euch auch etwas in der Art berichten sollte.“
Die meisten Kolleginnen lächeln verständnisvoll, eine wirft nüchtern in die Runde: „Na klar, die alte Dame halluziniert, da geht es wohl schon etwas in Richtung Demenz, in letzter Zeit sind mir da auch schon ein paar Anzeichen aufgefallen. Naja, die Jüngste ist sie nicht mehr, wer weiß, wie lange das noch dauert mit ihr.“
Zustimmend nicken einige der Pflegerinnen, die auch schon erlebt haben, dass alte Leute mitunter merkwürdig werden und absurde Geschichten von sich geben.
„Nein, sie halluziniert nicht, für sie ist das ihre persönliche Erfahrung, und genau deshalb erzähle ich euch davon. Mir ist es wichtig, die Menschen ernst zu nehmen, auch wenn ihr nicht alles nachvollziehen könnt. Ich möchte euch bitten, dass ihr sie nicht auslacht, sondern ihr mit Wertschätzung begegnet.“
Wohl wissend, dass diese Botschaft nicht von allen Pflegekräften angenommen wird, manche jedoch verstehen, was sie damit sagen will, beendet Frau Schulz das Meeting für den heutigen Tag, schlüpft in ihre Alltagkleider und tritt den Heimweg an. Unterwegs entschließt sie sich kurzerhand, noch einmal auf die Schnelle bei Rolf, ihrem Bruder, vorbeizuschauen.
Es ist eine schlimme Sache mit Rolf. Vor einigen Wochen bekam er völlig aus dem Nichts heraus die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ihn selbst und seine Frau Ina und auch den kleinen Sohn Anton traf das mit aller Wucht, und die ganze Familie war noch immer im Schockzustand. Wegen geringfügiger Verdauungsbeschwerden hatte er den Hausarzt aufgesucht, da er zudem noch eines Morgens mit gelben Bindehäuten der Augen aufgewacht war. Der machte einige Untersuchungen, schickte ihn zur Abklärung in die Universitätsklinik, wo er erfuhr, dass es nicht gut um ihn stand. Chemo, Operation und trotz alledem nicht viel Hoffnung, ein paar Monate noch vielleicht?
Rolf ist Ingenieur, ein Mensch, für den Zahlen und Fakten zählen, an Gott glaubt er nicht. Für ihn bedeutet diese Diagnose die Auslöschung, das schwarze Loch, in das er fällt, das absolute Nichts.
Rolf ist noch im Krankenhaus, die Operation und die erste Chemo sind geschafft, doch es geht ihm nicht gut. Die Ärzte machen ihm wenig Hoffnung. Sonja Schulz kennt ihren Bruder nur zu gut: Auch wenn er sich nach außen hart gibt, den Kämpfer zeigt, fühlt sie doch seine unbändige Angst, seine Wut und seine Hilflosigkeit. Ehrlich gesagt fehlen auch ihr die Worte, sie weiß einfach nicht, wie sie ihm begegnen soll. Sie hat im Laufe ihres Berufslebens dem Tod schon oft ins Auge geschaut, Menschen beim Sterben begleitet und ihre Angehörigen getröstet, so gut es ging. Nicht immer konnte sie die professionelle Distanz wahren, oft verfolgten sie die Erlebnisse bis nach Hause, wo sie einige Zeit brauchte, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden, vor allem, wenn sie die Patienten in ihr Herz geschlossen hatte. Doch dieses Mal ist es anders. Es ist ihr großer Bruder, zu dem sie schon seit der Kindheit eine tiefe Zuneigung hat und der ihr noch heute besonders nahesteht.
Entschlossen wischt sie sich die Tränen aus den Augen, Rolf soll nicht sehen, dass sie um ihn weint, und klopft an die Tür seines Krankenzimmers. Sie will helfen, auch wenn sie im Moment noch nicht recht weiß, wie sie das am besten anstellen soll. Schnell faltet sie die Hände vor der Brust zusammen und schickt ein kurzes Stoßgebet nach oben: „Bitte, lieber Gott, oder wer auch immer mich da hören mag, hilf mir jetzt, die rechten Worte zu finden. Ich liebe meinen Bruder so sehr.“
Читать дальше