Man fürchtet, sich zu blamieren, falls eine Technik nicht klappen sollte, gerade wenn man sie als unerfahrener Trainer vormacht.
Man ist Trainer, und korrigiert bei den Schülern weniger deren Technik, sondern vielmehr das eigene Ego.
Man erwartet als Lehrer von seinen Schülern, dass sie die Formen übernehmen und lässt ihnen keinen Raum für selbstständige Interpretation, weil man derartige Eigenständigkeiten als Kritik am eigenen Können wertet.
All diesen Fehlern begegnet man immer wieder. Doch wie gut wären wir erst, wenn wir diese Energien tatsächlich in die Verbesserung unserer Technik stecken würden? Das persönliche Geltungsbedürfnis bildet beim Ich-Bewusstsein die unterste Stufe. Dass man dies Bedürfnis am besten ablegen sollte, weil man sich so nur selbst im Wege steht, dürfte klar sein.
Im Aikidô, denke ich, gibt es auch einige Techniken, die ein klein wenig von dieser Samurai-Furchtlosigkeit erfordern. Ich will nur ein Beispiel nennen: die unbewaffnete Verteidigung gegen einen Schwertangriff, bei der man, sobald der andere sein Schwert zu heben beginnt, eine große Distanz zu überwinden hat, um an ihn heranzukommen, und darum ohne Zaudern vorspringen muss. Bei diesen Techniken ist das genaue Timing äußerst kritisch. Springt man zu spät vor, würde man vom Hieb getroffen, ist man zu früh, spießt man sich selber auf. Dennoch darf es kein Zögern geben aus Angst, man könnte getroffen werden. Wenn wir fürchten, einen Treffer zu erhalten, wird uns das Ich-Bewusstsein zum Hindernis.
Die höchste Stufe ist, den eigenen Körper vergessen zu haben: „Es geschieht (aus mir heraus)", statt „ich mache". Das ist die Handlung ganz ohne Ich-Bewusstsein, so auf die Tätigkeit konzentriert, dass man nicht an die eigene Person und nicht an den eigenen Körper denkt. Es bedeutet, eine Handlung zu vollziehen, ohne zu reflektieren, wie ich mich damit darstelle, und ohne zu grübeln, welche Konsequenzen für mich damit verbunden sind.
„Ein berühmter Chirurg war einmal bei einer Operation, die äußerste Konzentration erforderte. Während er an der Arbeit war, gab es plötzlich ein Erdbeben. Die Stöße waren so stark, daß die meisten Assistenten unwillkürlich aus dem Raum rannten, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber der Chirurg war derart in seine Arbeit vertieft, daß er die Stöße überhaupt nicht wahrnahm. Nach dem Ende der Operation erzählte man ihm von dem Erdbeben, und erst da nahm er es zur Kenntnis. Er war vollständig in seine Arbeit aufgegangen. Das ist eine Art von SAMADHI. [...] Wenn wir in dieser Art von SAMADHI sind, vergessen wir uns selbst ziemlich. Wir sind uns unseres Verhaltens, unserer Gefühle, unserer Gedanken nicht bewusst. Der innere Mensch ist vergessen, und äußere Umstände nehmen unsere volle Aufmerksamkeit in Beschlag.“ ( [23] S.106 ff )
Den Geist zu lenken und das Ich zu vergessen, das ist die Haltung, die die Samurai vom Zen ins Budô übernahmen, um ohne jede Furcht zu sein und um die Kampfkünste zu meistern.
„Wenn Ihr tanzt, hält die Hand den Fächer, und der Fuß macht einen Schritt. Wenn Ihr dabei nicht alles vergeßt, wenn ihr Euch in Gedanken zurecht legt, wie Ihr die Hände und Füße zu bewegen und richtig zu tanzen habt, kann man Euch nicht als guten Tänzer bezeichnen. Wenn der Geist in den Händen und Füßen verweilt, wird nichts, was ihr tut, wirklich gut sein." ([3] S.43)
Das Folgende ist vielleicht den meisten schon einmal passiert: Man hat sich in ein Buch vertieft, jemand ruft, aber man hört es nicht, die Person ruft noch einmal, man schrickt auf und fragt: „Was?". In diesem Augenblick hat man sich wieder an sein Ich erinnert, das Ich-Bewusstsein ist wieder aufgetaucht. „Wer will da etwas von mir?" Es ist der Zustand selbstvergessener Konzentration, vor dem Aufschrecken, den wir ins Training übernehmen sollten.
Shinakatta - Ich war´s nicht ...
Einmal war ich gerade dabei, aus meinem Küchenschrank etwas herauszunehmen, als ich versehentlich an eine Tasse stieß und sie hinunter fiel. Mit der anderen Hand fing ich sie auf.
Dies ist eine eigentlich ganz alltägliche Begebenheit. Doch etwas Besonderes fiel mir daran auf: Nicht „ich“ habe die Tasse aufgefangen. Da war nicht der Eindruck, dass ich bewusst den Flug der Tasse verfolgt, die Hand danach ausgestreckt und die Finger um sie geschlossen hätte. Sondern es war anders: Ich sah gerade noch, dass die Tasse fiel, und dann war sie plötzlich in meiner linken Hand. Und ich dachte: „Oh, ich habe die Tasse gefangen.” Da war das Gefühl, dass Dinge ohne mein Zutun ablaufen. Scheinbar hat etwas Anderes, Geistesgegenwärtigeres als „Ich” die Tasse gefangen.
Mit dieser Anekdote stoßen wir unvermittelt in einen Grenzbereich von „Ich” und „Bewusstsein” vor. Die Kampfkünste führen uns ganz selbstverständlich zu derartigen Grenzbereichen. Es sei aber betont, dass nicht von esoterischen Dingen die Rede ist, sondern es geht um ganz praktische Aspekte.
Wenn nun scheinbar etwas Anderes, Geistesgegenwärtigeres als „Ich” für mich handelt, so ist das lediglich ein anderer Bereich als das, was man gemeinhin als bewusstes „Ich” erlebt. Es ist ein unbewussterer Teil meiner selbst. Etwas, das nicht mehr dem Ich-Bewusstsein unterliegt. Etwas, das sich nicht mehr wie „Ich” anfühlt.
Eine Frage stellte sich: Hätte ich die Tasse überhaupt fangen können, wenn ich es mit vollem Bewusstsein versucht hätte? Hätte ich sie wohl aufgefangen, wenn ich nach dem Sehen registriert und begriffen hätte, dass sie hinunterfällt, die Flugbahn abgeschätzt, eine Entscheidung getroffen, mit welcher Hand ich sie fangen wollte, und wenn ich dann die Hand nach dem Schnittpunkt mit dem bewegten Ziel ausgestreckt hätte, um die Tasse zu fassen? Das wäre eine Menge Informationsverarbeitung, die in ganz kurzer Zeit zu leisten gewesen wäre. Genau wissen kann ich es nicht, aber ich nehme an, ich würde jetzt Scherben besitzen, statt einer Tasse.
Bewusstwerden benötigt Zeit. Denken hält auf. Die bewusste Verarbeitung von Informationen im Gehirn dauert. Sie kostet die Zeit, welche im Kampf möglicherweise den ausschlaggebenden Vorteil bringt. In vielen Fällen ist es gar nicht als bewusste Aktion zu bewerkstelligen, eine bestimmte Bewegung zum genau richtigen Zeitpunkt auszuführen. Wenn dagegen nicht „ich” es bin, der die Aktion ausführt, sondern der Körper handelt, so geschieht es spontan und schnell. Kein Bewusstsein bremst die Aktion, kein Denkvorgang hält sie auf. Das kann die entscheidenden Zehntelsekunden ausmachen. Klappt es, hat man einen Eindruck von „unbewusst gemacht, ich weiß nicht wie” oder man sagt sich bescheiden: „Ich habe wohl einfach Glück gehabt.“
Der Punkt ist grundsätzlich gesehen der: Ein Angreifer kann nur dann siegreich sein, wenn es ihm gelingt, das Bewusstsein seines Gegners zu überfordern. Nur dann kann er einen Treffer landen. Bleibt er unter der Schwelle, kann der Gegner jeden Angriff parieren. Erst wenn er jene Schwelle übersteigt, hat er überhaupt Chancen. Dann kommt der Angegriffene nicht mehr mit und kann getroffen werden. Je höher die Spanne der Geistesgegenwart des Gegners reicht, desto schwerer hat es der Angreifer. Somit ist Kampf immer auch ein Wettlauf der Bewusstseinsspannen; und ein körperlicher Sieg setzt ein geistiges Gewinnen voraus.
Das unbewusste Handeln zu nutzen ist eine Möglichkeit, die Spanne unserer Geistesgegenwart zu erhöhen. Das wäre also der Weg: Sich nicht mit dem Bewusstwerden des Geschehens aufhalten, sondern unmittelbar handeln.
Es hört sich an wie ein ganz besonderer Geisteszustand, doch das ist es nicht, es ist ein ganz natürliches Verhalten. Jeder Mensch hat schon einmal so gehandelt und handelt so ganz selbstverständlich. Um ein Beispiel zu geben: Jeder, der Auto fahren kann, hat in seinem Leben schon zunächst den Autoschlüssel ins Schloss gesteckt, sich dann umgesehen, ob die Straße frei ist, im nächsten Augenblick den Motor angelassen und ist losgefahren. Nun, das Umdrehen des Schlüssels, führt man das immer als eine vollkommen bewusste Handlung aus? Damit ist gemeint: Dreht man die Hand mit dem Schlüssel wirklich immer ganz bewusst? Oder startet man gelegentlich einfach, ohne dem Vorgang auch nur die Spur von Aufmerksamkeit zu schenken? Die Antwort lautet: Es ist durchaus so, dass man agiert, ohne es fortwährend bewusst zu kontrollieren. Wir handeln ständig auf diese Weise: in einer Mischung bewusst und unbewusst kontrollierten Handelns. Nur fällt es keinem mehr auf, so alltäglich ist es. Im Kampf ist es von Vorteil, die unbewusste Seite des Handelns verstärkt zu nutzen: Vertraue auf die unbewusste Weisheit des Körpers, es ist schon richtig was er tut.
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