Das Bemühen, Erleuchtung zu erlangen sei
„... nicht für mich selbst. Es ist nicht im geringsten ein persönlicher Wunsch, es geht über die Idee von einem Selbst hinaus. Es ist ein Wunsch ohne Begierde." ([4] S.75)
„Du solltest alles Denken und alle Wünsche, die etwas für dich erreichen wollen, abschneiden. So wirst du bald Erleuchtung erlangen." ([4] S.81)
Um die Erleuchtung zu erreichen, muss der Zen-Novize vom ich-bezogenen Handeln Abstand nehmen und Zazen üben, ohne dabei eine Absicht zu verfolgen. Manche, so wird berichtet, erlangten die Erleuchtung erst genau dann, als sie aufgegeben hatten und das Kloster verlassen wollten.
Man mag nun die buddhistische Anschauung teilen oder nicht, den Gedanken des Handelns ohne Absicht kann man mit Gewinn auf die Praxis des Budô übertragen: Die Ausführung einer Technik – auch das ist eine Handlung – sollte absichtslos erfolgen.
Es bedeutet, erstens, nicht an das Werfen denken, sich nicht auf das Zuziehen des Hebels fixieren, nicht in erster Linie siegen wollen, sondern sich ganz auf die Bewegung an sich konzentrieren. Die Erfahrung bestätigt, dass dann die Techniken wesentlich besser gelingen: Denn die Entscheidung, ob ein Wurf oder ein Hebel gelingt, fällt nicht in dem Moment, in dem man den Wurf oder den Hebel ausführt, sondern sehr viel früher in der Bewegung. Trainiere so, dass du die Technik als solche gut ausführst, und du bekommst den Wurf oder den Hebel am Ende geschenkt.
Zweitens: Haben wir eine Absicht, so kann der Gegner sie erraten und vereiteln. Handeln wir dagegen spontan und ohne Absicht, wie könnte er dann unserer Absicht zuvorkommen?
Drittens: Auch im Freikampf (Randori) ist es besser, sich keine bestimmte Technik vorzunehmen (z.B. „Jetzt werf´ ich ihn mit Koshi-Nage!" (einem Hüftwurf)). Die eine mag zwar durchaus funktionieren, aber durch die Dynamik des Angreifers könnte eine andere Technik angezeigter sein. Besser ist, man lässt die Technik einfach geschehen. Dafür ist ein beträchtliches Maß an Übung erforderlich, in der Weise, dass alle Technik-Optionen bereits trainiert wurden und man für jeden Fall gerüstet ist. Hat man das entsprechende Können, so überlässt man die Wahl der Technik seiner geschulten Intuition.
Sutemi - Den Körper vergessen
Als Zen-Meister Shoju 13einmal die Effektivität seiner Zazen-Übung auf die Probe stellen wollte, unternahm er einen Test. In der Nähe seines Tempels gab es ein kleines Dorf. Dieses wurde immer wieder von einem Rudel Wölfe heimgesucht, die sich in der Nacht auf der Suche nach Beute heranschlichen und bis in das Dorf eindrangen. Kein Dorfbewohner wollte nachts noch auf die Straße gehen. Shoju beschloss, sich beim Friedhof, etwas außerhalb des Dorfes, niederzusetzen und sieben Nächte unter den Wölfen zu meditieren. Als es dunkel geworden war, kamen die Wölfe. Shoju saß regungslos in Zazen. Die Wölfe umringten ihn, einige sprangen über ihn hinweg, schnüffelten an seinem Rücken und am Hals, andere stießen mit ihren Schnauzen an seine Hände, Nase und Ohren. Doch Shoju ließ sich in seiner Konzentration nicht stören. Andernfalls hätte er seinen Versuch wohl kaum überlebt. Hätte er die Nerven verloren, hätten sich sein Geist und sein Körper nur ein bisschen bewegt, die Wölfe hätten ihn sofort angefallen (vgl. [1] S.98). Zu keinem Zeitpunkt dachte er daran, dass ihn die Wölfe fressen könnten. In seiner Konzentration hatte Shoju die Lebensgefahr, in der er sich befand, völlig „ausgeblendet". Er hatte die Gefahr vergessen; er hatte die Wölfe vergessen; er hatte sich selbst vergessen.
Zen bringt – auch im praktischen Leben – eine bestimmte geistige Haltung mit sich: Wenn man alle Handlungen nur um ihrer selbst willen ausführt und sich ganz auf sie konzentriert, so vergisst man dabei die Sorgen um die eigene Person.
Im vorigen Kapitel war die Rede von der Handlung ohne Absicht. Eng mit einer Absicht verknüpft ist das Ich-Bewusstsein. Wenn man eine Absicht verfolgt, so liegt dieser ein persönliches Motiv zugrunde, also auch ein bewusstes Wissen und Wahrnehmen des eigenen Ichs. Mit dem Begriff „Ich-Bewusstsein“ ist hier gemeint, dass man sich seiner selbst als Subjekt gewahr ist. Also „ich mache etwas", „ich fühle das" oder „ich wünsche mir jenes". Im Zen und im Budô ist dieses Ich-Bewusstsein gleichermaßen von Bedeutung. Es muss dabei nicht notwendigerweise gleich um Leben und Tod gehen. Ich-Bewusstsein beinhaltet auch, Selbstwertgefühl zu pflegen, zu überlegen, wie andere einen sehen oder sich um seine persönliche Zukunft zu sorgen. Die drei aufgezählten Beispiele haben gemein, dass der Betreffende bei seinen Gedanken sein Ich mit ins Spiel gebracht hat, die Vorstellung, dass sich das Geschehen mit Bezug auf die eigene Person abspielt, eben ein bewusstes Ich.
Dôgen Zenji, der das Sôtô-Zen aus China nach Japan brachte, lehrte:
„Weg-Übende! Erlernt das Buddha-Dharma 14 nicht um euer selbst willen. Erlernt es nur um des Buddha-Dharma willen. Das Wichtigste dabei ist, Leib und Seele ohne jeden Vorbehalt abzuwerfen. ... Befaßt euch nicht mit Richtig oder Falsch, haftet nicht an euren eigenen Ansichten. ... Erwartet niemals eine Belohnung für eure Leistung, den Buddha-Weg geübt zu haben. Habt ihr einmal die Richtung des Buddha-Weges eingeschlagen, schaut niemals auf eure eigene Vergangenheit zurück." ([5] S.143f)
Und an einer anderen Stelle heißt es:
„Ein alter Meister sagte: ´Du sitzt an der Spitze einer dreißig Meter hohen Fahnenstange. Tu einen Schritt vorwärts.´ Das bedeutet: Seid gesinnt wie jemand, der die Fahnenstange losläßt, an deren Spitze er sich festhält; mit anderen Worten: Ihr müßt Körper und Geist wegwerfen. ... Als hauslose Mönche müßt ihr als erstes von eurem Ich wie von (der Gier nach) Ruhm, Ehre und Gewinn Abstand nehmen." ([5] S.165f)
Das Ich-Bewusstsein musste der Mönch ablegen, um sich ganz dem Buddha-Weg widmen zu können.
Ein Samurai sollte ebenfalls ohne Ich-Bewusstsein kämpfen und seinen Körper vergessen haben. Dachte er an sich selbst, an seinen Körper oder sein Leben, so wären im Gefecht unweigerlich kurze Momente der Angst aufgekommen, der Angst zu sterben oder verletzt zu werden. Diese kurzen Momente wären schon wieder Kristallisationspunkte des Zögerns gewesen, und im falschen Augenblick zu zögern hätte die Niederlage und damit den Tod bedeuten können. Im Kampf Ich-Bewusstsein zu behalten, erhöhte die Wahrscheinlichkeit zu sterben.
Zen-Meister Kodo Sawaki fand dafür treffende Worte:
„Das erste Gebot ... besteht darin, jegliche Form von Selbstsucht abzulegen. Einen Menschen umzubringen, um sein eigenes Leben zu retten, beweist eine selbstsüchtige Haltung. Wenn die Absicht, seinen Gegner zu töten, noch vorhanden ist, wird man das Leben verlieren. Das Ziel des Kampfes besteht darin ... den Gegner zu treffen, ohne an sich selbst zu denken. Während der ganzen Dauer des Kampfes müssen die beiden Gegner alle üblichen Sorgen beiseite legen und frei von Ränken sein. Sie dürfen weder eine List anwenden noch den Tod fürchten." ([8] S.128)
Ich-Bewusstsein in all seinen Schattierungen ist etwas, dem wir in unserem Training laufend begegnen:
Man ist unaufmerksam, läuft in ein Atemi hinein, ist beleidigt und ärgert sich über den anderen obwohl man selber nicht aufgepasst hat. (Atemi = Schlag, im Training meistens nur angedeutet)
Man nimmt einen Rat nicht an, weil man dem anderen nicht zugestehen will, dass er es besser weiß.
Man blockiert eine Technik, um dem anderen zu zeigen, dass er sie nicht kann und um sich selber zu sagen, dass man es besser kann.
Man erteilt anderen dauernd Ratschläge, damit sie auch bestimmt merken, dass man es besser kann.
Man verletzt den Trainingspartner, weil man beweisen muss, dass die eigene Technik funktioniert.
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