„Das japanische budô ist die Einheit der Kampfkünste und des Zen.“ ([2] S.38)
Ohne Zen gäbe es die Budô-Künste nicht in der Form, die wir heute kennen. Zen ist die Quelle der Inspiration für alle Budô-Künste.
Die Verbindung von Zen und Budô ist geschichtlich entstanden. Gautama Siddhartha, der historische Buddha 2, setzte sich, der Überlieferung zufolge, nach sechsjähriger Suche und Wanderschaft unter einen Feigenbaum, praktizierte Meditation und erfuhr dadurch Erleuchtung. Diese Art der Meditation nannte man „dhyana". Nach Gautamas Tod spaltete sich der Buddhismus in verschiedene Richtungen auf. Einige behielten „dhyana" als zentrale, besonders betonte Übungsform bei.
Durch Bodhidharma gelangte diese Richtung schließlich nach China 3und wurde dort „ch´an-na" ausgesprochen. Indem der Buddhismus sich mit dem Gedankengut des Taoismus verband, entwickelte sich die spezifisch chinesische Prägung des „ch´an"-Buddhismus. Dieser blieb in China stets ein Außenseiter unter den Religionen, die Verneinung jeglicher Form machte „ch´an" im damaligen Kaiserreich ungeeignet für offizielle Zwecke.
In Japan hatte der Buddhismus – aus China kommend – als neue Religion schnell Fuß fassen können 4. Immer wieder brachen japanische Mönche zu Studienreisen in das vermeintliche Ursprungsland des Buddhismus auf. Eisai und Dôgen, zwei dieser Reisenden, kamen auf ihren Studienreisen nach China mit der neueren Richtung des „ch´an"-Buddhismus in Berührung. Sie verbrachten mehrere Jahre bei ihren Lehrern und verbreiteten nach ihrer Rückkehr „Zen" in Japan 5. Dort fühlte sich insbesondere die Kriegerschicht der Samurai durch die Ideen dieser neuen Richtung des Buddhismus angesprochen. Ihre Lebenssituation erforderte von ihnen, spezielle Wege zu finden den Tod zu bewältigen, an dessen Pforte sie zu jeder Zeit standen. Das einfache Volk blieb dagegen eher dem esoterischen Buddhismus (Shingon, etc.) und der „Reinen Land"-Sekte zugetan.
Als die Heian-Ära, die glanzvolle Zeit des Kaiserhofes von Kyôto, zu Ende ging, war der Tenno nicht mehr in der Lage das Land zu regieren. Der Shogun übernahm diese Funktion. Als Regent übernahm er faktisch die Macht im Lande. Die Shogune entstammten der Klasse der Samurai, und Zen wurde zeitweise Staatsreligion 6. In der Folge drang der spirituelle Einfluss des Zen in viele Lebensbereiche ein, es entstanden die „Zen-Künste” – Teezeremonie, Ikebana, Kalligraphie und Budô. Durch diese wurde Zen schließlich auch von den breiten Schichten der Bevölkerung angenommen.
„Zen wäre nicht angenommen worden ohne bestimmte Formen. Zazen [-Meditation] ist eine Form, doch Zen kann unendlich viele Formen erzeugen. Ich glaube, daß Aikido eine dieser Formen ist. ... Daher wird Aikido ‚Zen in Bewegung` genannt, während man Zazen als ‚Aikido in Ruhe` beschreiben kann." ([1] S.23f)
Der ideelle Einfluss des Zen lässt sich auf viele Tätigkeiten übertragen. Umgekehrt würde man am Ende zu ganz ähnlichen Methoden gelangen, wenn man nach hervorragenden Leistungen strebte, auch ohne Zen zu kennen. Die Lehre des Zen ist etwas zutiefst Natürliches. So findet man bestimmte Elemente überall wieder.
Ein Extrem-Kletterer beschrieb einmal den mentalen Zustand, wenn er sich ohne Seil voll konzentriert weit oben in der luftigen Höhe einer Felswand bewegt, mit den Worten: „Dann ist man im Gas.“ Er skizzierte damit, dass es für den Moment dort oben nur mehr die ätherische Leichtigkeit gibt, aber keinen Abgrund, keinen Gipfel, keine Gefahr und keinen Kletterer. Er fasste einen Zustand, wie man ihn im Zen kennt, das „Hier und Jetzt“, in bildhafte Worte, ohne jemals von Zen gehört zu haben.
Jede Kunst, die eine anspruchsvolle körperliche Koordination erfordert, sei es eine Kampfkunst wie Aikidô oder Sportklettern, Skirennlauf, Gewichtheben, Tennis, Golf, oder der Zusammenbau einer mechanischen Taschenuhr – egal in welchem Bereich – alle diese Tätigkeiten haben einen mentalen Aspekt.
Ein Skirennläufer fährt vor dem Start im Geiste durch die Slalomstangen, und bei seinem Lauf während des Rennens vergisst er alles andere, seine Gegner, seine Weltcup-Punkte, seine Gefahr zu stürzen, er konzentriert sich nur auf die nächste Stange und auf seine Linie. Das ist Zen. Ein Gewichtheber nimmt sich einen Moment der stillen Sammlung, bevor er nach vorne schreitet, die Stange ergreift, und die ganze Kraft seines Körpers unter die Gewichte stemmt. Das ist Zen.
Will man erfolgreich sein, erfordern all diese Tätigkeiten letztlich die gleichen Elemente wie sie bereits vor langer Zeit aus dem Zen in die Kampfkünste eingedrungen sind. Die Meister der Budô-Künste verdanken ihre Meisterschaft in besonderem Maß diesen Elementen.
Jene Elemente, die Zen für das praktische Budô bereit hält, das sind sennen, kokyu, shisei, mushotoku, sutemi, zanshin, mushin, hishiryo, shoshin . Dieses Buch soll dienen sie aufzuzeigen.
Zuihô-in - Im Zuihô Tempel in Kyôto
Das Tani House ist meine charmante Herberge in Kyôto. Der Eingang liegt ganz versteckt. Eine schmale Pforte führt durch eine Bambushecke, dann ein wenige Schritte langer Pfad neben einem angelegten Teich. Eigentlich ist der Teich eher eine Pfütze, so schmal, dass der japanische Zierkarpfen darin sich kaum umdrehen kann. Ich habe hier nette Leute kennen gelernt: zwei Amerikanerinnen auf Jobsuche im unbekannten Japan, mehrere Biologen, die an einem internationalen Kongress teilnehmen ... Gestern Abend saßen wir noch lange in der winzigen Gemeinschaftsküche, sprachen über die Erdmännchen 7in Tansania und über Gorbatschow und Perestrojka und tranken den unglaublich milden Wodka, welchen die Russen mitgebracht hatten.
Heute habe ich schon früh am Morgen das Tani House verlassen, trotz Restmüdigkeit. Auf meinem Besichtigungsprogramm steht der Zuihô-Tempel mit seinem Steingarten. Mit dem Bus fahre ich hin. Ein schmaler, gewinkelter Steinplattenweg führt hinein. Alles ist leer. Offenbar bin ich der erste Besucher heute Morgen. Ich hocke mich auf die hölzerne Veranda und sehe mir den Steingarten an. Er ist ganz anders als der erhaben-leere Garten des Ryoan-ji. Dessen Steine sind spärlich-vereinzelte Felsinseln, verloren in der weiten Fläche aus weißem, gerechten Kies. Wenn man den Garten im Ryoan-ji betrachtet, so findet man zunächst kein ästhetisches Konzept, keinen Ausdruck, keine Botschaft, keinen Sinn. Die vorhandenen Felsbrocken scheinen den Eindruck von Leere noch zu verstärken. Dieser Garten ist dagegen geradezu expressionistisch. Die Felsen sind wild gezackt, ihre Spitzen ragen wie Lanzen in die Luft. Sie schwingen sich auf zu einem großen Felsen rechts hinten im Eck. Der Kies ist zu brandenden Wogen geformt. Dieser Garten hier will etwas ausdrücken: Der große Fels im Eck stellt den erleuchteten Menschen – den Bodhisattva – dar, der unbeeindruckt ist von den Anfechtungen, Ablenkungen und Versuchungen – dem Samsara, das ihn umgibt.
So sitze ich, ein wenig müde noch vom gestrigen Abend, ganz alleine auf der Terrasse und betrachte diese fremdartige, expressive Gartenlandschaft. Ich höre Schritte: Platsch, platsch, platsch. Ein Zen-Mönch kommt um die Ecke, barfüßig, in ein knielanges Gewand gehüllt, ein Grinsen auf dem runden Gesicht. Als er mich sieht stutzt er. „Hoh! You have to sit straight!" Mit ein paar Schritten ist er bei mir, klopft mir auf den Rücken, und erklärt mir in ein wenig holperigem Englisch, dass dieser Garten hier ein Ort der Meditation ist. Dazu gehört aufrecht zu sitzen. Ob ich denn schon etwas über die Zazen-Meditation wüsste? Ich bejahe die Frage, und erkläre, dass ich es auch selber versucht hätte. Allerdings hätte ich dabei keinen richtigen Lehrer gehabt. Er tritt zur Seite, öffnet eine Schiebetür und winkt mich heran. Der Raum dahinter ist mit Matten und zahlreichen Sitzkissen ausgelegt. Durch die Papierbespannung dringt halbdunkles Licht. An einer Stelle sind die Schiebetüren zur Veranda geöffnet, jedoch wurde eine Absperrung aufgestellt.
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