Alle meine Fragen nach seinem Einkaufsziel blieben allerdings unbeantwortet.
Er brummelte jedes Mal etwas in sich hinein und machte seinen Arm wieder frei, wenn ich ihn in einen Supermarkt ziehen wollte.
Ich bemerkte, dass er sein rechtes Bein ein wenig nachzog. Nicht viel, aber doch so, dass ich mich fragte, warum es mir vorher nie aufgefallen war. Ich hätte es bemerken müssen. - Also musste es, was auch immer die Ursache war, neueren Ursprungs sein.
„Was ist nur in diesem Jahr mit dir passiert Harry?“ dachte ich, während ich weiterhin an seinen Fersen hing.
Schlecht konnte es ihm jedoch nicht gehen, denn da waren immerhin diese tausend Dollar. - Wenn, ja wenn es sein Geld war.
Sicher, der äußere Eindruck sprach dagegen, aber was besagte das schon.
Als ich diesem Gedanken nachging, und schon gar nicht mehr damit rechnete, ging Harry schnurgerade in ein Geschäft hinein.
Ich war überrascht, hatte ich seinen Wunsch einzukaufen doch mittlerweile für eine Alkoholphantasie gehalten.
Um das Schild über dem Laden lesen zu können trat ich einen Schritt zurück.
"Lucys Pariser Damenmoden" stand da über dem Eingang in dicken, goldenen Buchstaben auf einer schwarzen Tafel. Und wie zur Bestätigung, protzten zwei üppig dekorierte Schaufenster zu beiden Seiten der Tür.
Ich folgte ihm.
Kaum war die Türglocke verebbt, kam auch schon eine Verkäuferin auf mich zugeweht.
„Womit kann ich dienen Sir?“ wollte sie wissen und brachte eins dieser nichts sagenden, unverbindlichen Gesichter zustande.
Ich konnte nicht gleich antworten. Die Üppigkeit des Ladens, der Parfümgeruch, der allem anhaftete und irgendeine sündhafte Kombination aus beidem, nahm mir den Atem.
Ich war noch nie in einem Geschäft wie diesem gewesen, da es in meinem Leben noch keine Frau gegeben hatte, der ich etwas schenken wollte, dass es hier zu kaufen gab.
Vielleicht war das auch irgendwie krank, doch so war es nun mal.
Aber bei Harry gab es offensichtlich solch eine Dame.
„Kann ich ihnen helfen Sir?“ fragte die Verkäuferin hartnäckig nach und ließ ihren Blick abschätzend an Harry rauf und runter gleiten.
Wie aus einem Traum erwachend, blickte ich sie an:
„Nein Danke,“ antwortete ich „ich bin mit dem Herrn hier.“
Dabei deute ich auf Harry, der mitten im Raum stand und in einem Kleiderständer wühlte.
Eine weitere Verkäuferin neben ihm, machte einen hilflosen, leicht panischen Eindruck. Sie hätte ihn wohl gerne an seinem Tun gehindert, traute sich aber offensichtlich nicht.
„Aber was suchen sie denn mein Herr,“ hörte ich sie fast flehentlich fragen. „Vielleicht kann ich ihnen ja irgendwie helfen.“
Ich stellte mich zu den beiden.
Dankbar registrierte sie, dass ich zu Harry gehörte. Am dankbarsten aber wohl darüber, dass ich offensichtlich nüchtern war.
Da selbst mir Harrys Verhalten unerklärlich erschien, beschloss ich, ihr zu helfen, wenn ich konnte.
Ich tippte ihm auf die Schulter:
„Harry!“
Ich tippte noch mal:
„Harry!“
Er richtete sich auf und schaute mich gehetzt an.
„Harry, was suchst du denn? - Willst du ein Kleid kaufen?“
Ich hatte den Eindruck, dass er, obwohl wir ja zwischendurch nichts getrunken hatten, noch besoffener war als vorher.
„Ja ein Kleid,“ antwortete er wie im Fieber, gab sich aber gleich wieder seiner Suche hin.
„Aber hier gibt es tausend Kleider Harry!“ versuchte ich ihn in die Realität zurückzuholen.
Er stierte ausdruckslos an mir vorbei.
„Silber!“ war das einzige Wort, das über seine Lippen kam.
Ich schaute mich mit der Verkäuferin fragend an und nahm Harry mit beiden Händen an den Schultern.
„Was heißt Silber? - Meinst du die Farbe?“
Wie in einer Erleuchtung wandte Harry sich an die Verkäuferin und sprach völlig klar:
„Das Kleid war Silber! Sie hatten ein silbernes Kleid in ihrem Schaufenster!“
Ich schaute die Verkäuferin an, die wiederum hilfesuchend zu ihrer Kollegin blickte.
„Es war glatt und silbern,“ bohrte Harry weiter. „Wie aus Metall!“
Seine Augen glühten vor Aufregung.
„Solch ein Kleid wie sie es beschreiben, hatten wir wirklich in unserem Schaufenster,“ bestätigte die Verkäuferin und ging zu einem Ständer.
Sie griff hinein und zog ein dünnes, metallisch schimmerndes Etwas hervor.
„Ist es das, was sie meinen?“ wollte sie von ihm wissen.
Alle schauten fragend in seine Richtung.
Wie vom Donner gerührt stand Harry mit offenem Mund da. Fast ehrfurchtsvoll betrachtete er das Kleidungsstück, das über den Arm der Verkäuferin zu fließen schien.
Langsam, immer wieder das Gleichgewicht suchend, ging er darauf zu.
Als er mit seiner schwitzigen Hand über das Material glitt, wich die Frau instinktiv einen Schritt zurück.
„Soll er doch ein Kleid kaufen, wenn es ihm Spaß machte,“ dachte ich. „Ist ja hoffentlich sein Geld.“
Und Spaß schien ihm der Einkauf zu machen. Wie eine kostbare Reliquie nahm er es in den Arm.
„Wissen sie denn welche Größe die Dame hat?“ wollte die Verkäuferin wissen. Etwas in ihr schien sich zu sträuben, diesem besoffenen Kerl das Kleid zu verkaufen.
Harry glotzte sie an.
„Ist die Dame mehr zierlich, oder eher üppig?“ blieb sie hartnäckig.
Harrys Empörung über so viel Sachlichkeit in seinem Traum wurde deutlich.
„Es wird schon passen,“ zischte er. „Packen sie es ein!“
Die Verkäuferin zuckte mit den Achseln, nahm das Kleid, wickelte es in Papier ein und machte daraus ein kleines, mit einer Schleife verziertes Bündel.
Die Erleichterung, als Harry ihr die unglaubliche Summe von dreihundertfünfzig Dollar aushändigte, war deutlich in ihrem Gesicht zu sehen.
Er drückte das Päckchen an sein schmutziges Hemd vor der Brust und wir verließen den Laden so schnell wie wir reingekommen waren.
Zielstrebig schlug er den Weg Richtung Hafen ein, so dass ich Mühe hatte hinterher zu kommen.
„Hey, ich dachte, dass wir noch einen trinken gehen?“ rief ich, als ich neben ihm angekommen war.
„Ja, ja,“ prustete er, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.
„Mensch Harry, für wen ist denn das Kleid? - Muss ja `ne tolle Frau sein!“
Er blieb stehen und schaute mich an.
„Darauf kannst du einen lassen!“
Ich nahm ihn am Arm.
„Nun sag schon, wer ist es? Kenne ich sie?“
„Was geht es dich an?!“
„Erzähl schon Kumpel! Ich bin neugierig.“
Er schaute auf das Päckchen, das er noch immer vor seiner Brust zerknüllte.
„Rita,“ antwortete er fast beschwörend und streichelte dabei liebevoll über das Papier.
Ich wollte mehr wissen.
„Rita, - wer? Es gibt viele Ritas!“
In seinem Kopf nahm er einen deutlichen Anlauf.
„Rita aus der Blue-Moon Bar,“ gab er Auskunft und schaute mich mit seinen kleinen Schweineaugen fragend an.
„Kennst du sie?“
Ich hatte das Gefühl, dass in diesem Augenblick, jeder meiner Gesichtsmuskeln das tat, was er wollte.
Ob ich Rita aus der Blue-Moon Bar kannte wollte er im Ernst wissen. - Wer kannte Rita nicht!?
„Die Stripperin?“ vergewisserte ich mich.
„Tänzerin!“ verbesserte er und Speichel flog in meine Richtung.
Rita von der Blue-Moon Bar!
Mein Gott, und für diese Frau hatte Harry ein Kleid gekauft!
Fast jeder Junge über sechzehn Jahren in der Stadt kannte Rita.
Und nicht eben Wenige hatte ihre ersten Liebeserfahrungen mit ihr gemacht, - wenn man dem Gerede Glauben schenkte.
Einige wohl real, andere wiederum in der Fantasie unter ihrer Bettdecke.
Bei allen wurde sie nur Lovely Rita genannt.
Ich hatte sie schon oft tanzen sehen und war sicher, dass man für ein paar Dollar auch noch mehr als nur einen Tanz von ihr bekommen konnte.
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