Wilhelmine schob ihren Arm in Juris und die beiden machten sich auf den Weg zum Gut. Sie gingen an der Skottau entlang. Arm in Arm. Ohne etwas zu sagen. Es schien, als würde die Zeit ein bisschen langsamer laufen als sonst. Der Mond zwinkerte und schaute freundlich. Aus den Augenwinkeln sah Wilhelmine im Mondlicht, das sich im Wasser spiegelte, dass die kleine Schildkröte immer noch am Ufer des Flüsschens saß. Weit war sie nicht gekommen.
Und dann blieb Juri stehen. Es war ganz still. Das einzige Geräusch, das man hörte, war das leise Plätschern des Flüsschens. Juri drehte sich zu Wilhelmine um. Vorsichtig nahm er ihr Gesicht in beide Hände. Juri schaute ihr mit seinen warmen braunen Augen so tief ins Herz, dass Wilhelmine schwindelig wurde und die Knie unter ihr nachgaben. Die Maibowle, dachte das Mädchen kurz und ließ sich von ihren Gefühlen treiben, mitreißen. Sie genoss es. Genoss den Augenblick, die Berührung, den Kuss. Wilhelmine hatte die Augen fest geschlossen und wollte sie nie wieder öffnen. Die kleine Schildkröte sah zu.
“Kochanka. Liebes.” Juri löste sich von Wilhelmine. “Ich möchte dich wiedersehen”, sagte er.
Wilhelmine öffnete die Augen. “Ich auch”, sagte sie.
Ich krieg das hin, dachte sie. Juri ist der Mann, den ich will. Und niemand anderes.
Dann lief sie nach Hause und drehte sich nicht mehr um.
Auf leisen Sohlen hatte sie sich durch die Hintertür ins Wohnhaus geschlichen. Sie wollte niemandem begegnen, nicht den Mädchen, niemanden von den Instleuten und erst recht nicht ihren Eltern. Die hatte sie zwar vorhin noch zufrieden auf dem Fest gesehen, doch Wilhelmine hatte das Gefühl, als sei seitdem eine Ewigkeit vergangen. Nichts war mehr wie es war.
Vorsichtig stieg sie die Treppe hinauf zu ihrer Kammer, schlüpfte hinein, zog sich aus und kuschelte sich unter die Bettdecke. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und träumte mit offenen Augen. Sie dachte an Juri, an den Abend, an seine Berührungen. Sie hatte den Polen immer schon besonders gern gehabt.
Auf den Wiesen hinter der Skottau hatte Juri oft die Kühe gehütet, die zum Gutshof gehörten. Magda und Wilhelmine hatten sich nach der Schule auf die Weide geschlichen. Zu dritt hatten sie dann den ganzen Tag dort verbracht, bis es dämmrig wurde und die Mädchen abends zu Hause erwartet wurden.
Magda hatte dann manchmal aus dem Zollwärterhäuschen eine Decke organisiert, Wilhelmine Kuchen und Kakao aus der Küche stibitzt und die drei hatten es sich gut gehen lassen. Die Kühe konnten in der Regel gut auf sich selber aufpassen. Dass sich kein Tier verirrte, dafür hatte Loni gesorgt, die als Haus-, Hof- und Hütehündin auf Lonzewskis Gut für diese Aufgabe zuständig war. Magda sah Loni in Gedanken noch heute vor der großen schwarzbunten Kuh Hilde stehen und sie aus Leibeskräften anbellen. Hilde war das Alpha-Mädchen in der Herde und ziemlich neugierig. Immer wieder büxte sie aus, weil sie vermutlich fand, dass das Gras woanders besser schmeckte. Vielleicht wünschte sie sich aber auch einfach nur eine Wiese, die sie ganz alleine wiederkäuen konnte, und wollte nicht teilen. Jedenfalls geriet sie manchmal auf Abwege und versuchte sich ungesehen von der Herde zu entfernen. Meistens gelang es nicht, denn die dämlichen Kühe trotteten einfach hinterher. Wilhelmine musste grinsen, als sie an die Versuche dachte, die Loni dann unternahm, um Hilde wieder auf den rechten Weg zurück zu führen.
Wer weiß, was alles passiert wäre, wenn die Hündin nicht dafür gesorgt hätte, dass alle Tiere in Sichtweise blieben.
Hinter der Weide war Moor. Dort war es gefährlich für die Tiere. Wenn die in den Sumpf gerieten, bekam man sie nur sehr schwer wieder zurück auf festen Boden. Doch Loni passte auf, wenn die Kinder bei ihrem Spiel die Kühe vergessen hatten.
Die Skottau grenzte direkt an die Kuhweide und wenn im Sommer die Sonne aus allen Wolken fiel, hatten Magda, Wilhelmine und Juri es genossen, sich in dem kleinen Flüsschen abzukühlen. Oft waren auch die anderen Jungs aus dem Dorf dabei. Mädchen gab es nur wenige. Magda und Wilhelmine waren meistens die einzigen.
Wilhelmine dachte daran, wie Juri die beiden Freundinnen beschützt hatte, wenn einer der anderen Jungs sie ärgern wollte. Sie erinnerte sich daran, wie die Jungs bei einer Rangelei alle mitsamt ihren Klamotten schließlich ins Wasser gefallen waren und Wilhelmine und Magda sich erst ausgeschüttet hatten vor Lachen. Das hatten die Jungs nicht einfach so hingenommen. Sie hatten sich verteidigt und die Mädchen von oben bis unten nass gespritzt.
Magda und Wilhelmine hatten die Beine in die Hand genommen und zugesehen, dass sie weg kamen.
Manche Tage waren aber auch einfach nur friedlich gewesen.
Die Mädchen hatten ihre Hausaufgaben mitgebracht, gemeinsam mit Juri Gedichte auswendig gelernt und gesungen.
Wilhelmine überlegte kurz. War Juri überhaupt zur Schule gegangen?
Sie wusste es tatsächlich nicht. Dass er nicht mit den Kindern in Klein Koslau in eine Klasse gegangen war, war klar. Er wohnte jenseits der Grenze, die Magdas Vater als Zollwärter hütete, und war Pole.
Wahrscheinlich war er auf eine polnische Schule gegangen, überlegte sie.
Wilhelmine dachte an den Kuss an der Skottau und spürte wieder das Kribbeln im ganzen Körper. Sie würde nicht schlafen können. Ganz bestimmt nicht. Sie seufzte tief, drehte sich auf die Seite und war umgehend eingeschlafen.
CHAPTER VIER
2016
Pling.
Das Handy auf dem Tisch machte Geräusche.
Minna, die europäische Sumpfschildkröte, saß in ihrem Terrarium auf der Anrichte und guckte hoch.
Vor fünfundzwanzig Jahren hatten Josefine und Tom sich ihr Haus gekauft. Damals war die Schildkröte schon da gewesen.
Die Vorbesitzerin des Hauses hatte sie mitsamt Terrarium und allem, was dazu gehörte, bei ihrem Auszug einfach stehen lassen.
Minna war die Kurzform von Wilhelmine. Josefines Großmutter hatte so geheißen und sie war überzeugt: Das war genau der richtige Name für diese Schildkröte.
Es war angenehm warm in der Küche, fand Minna. Sie hatte genügend zu fressen. Es gab immer frisches Wasser und Holz zum Klettern. Auf einer kleinen Insel wuchsen Kräuter und die drei glatten großen Steine waren Minnas Platz an der Sonne. An zwei Sonnen, um genau zu sein. Eine lachte immer wieder mal durchs Fenster hinter ihr und eine kleinere hing zusätzlich über ihrem Lieblingsplatz. Die lachte vielleicht nicht, aber sie leuchtete und wärmte auch. Heute war es vor allem die Sommersonne, die für Minna das Leben liebenswert machte.
Groß war ihr Lebensraum nicht, aber der Schildkröte genügte es. Sie hatte ohnehin nicht vor, irgendwohin zu gehen. Sie saß lieber still auf einem Stein und beobachtete.
Ihre kleine Welt war die Küche, die Anrichte, auf der ihr Terrarium stand, und das Fenster, durch das sie immer sehen konnte, was im Garten los war.
Und da gab es viel zu beobachten: Katzen, die sich balgten, Mäusefamilien auf der Flucht, Vögel, die sich am Leben freuten und übermütig zwitscherten.
In der Küche war es meistens ruhig.
Nur manchmal, da wurde der Raum lebendig. Dann klapperten hier Töpfe und Pfannen. Es brutzelte und blubberte und die Frau, die in der Küche zu Hause war und die Schildkröte versorgte, plapperte.
Tom musste zuhören.
Die Küche war der Lieblingsplatz von Minnas Menschen. Sie saßen sich an einem kleinen Tisch gegenüber. Und genau wie Minna schienen sie Freude daran zu haben, das Treiben im Garten zu beobachten.
Doch heute fand es Minna viel spannender, zu sehen, was da am Küchentisch los war. Da lag etwas und das machte “Pling”. Immer wieder.
“Dein Handy piept”, machte Josefine Tom darauf aufmerksam. Minna sah zu, wie das Ding auf dem Tisch mit jedem Pling ein kleines bisschen über den Tisch hüpfte. Die Menschen nannten es “Smartphone”, “Handy”. Das hatte Minna schon oft gehört. Bei manchen saß eine Spinne drauf. Das wusste sie. Denn einmal hatte sie gehört, wie jemand zu Josefine gesagt hatte: “Oh, dein Display hat eine Spider-App.”
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