Schließlich hörte ich auf meine jugendlichen Beraterinnen und entschied mich für den Hut, der den beiden am besten gefiel. Ein weicher Strohhut mit sehr breiter Krempe und flatternden Bändern. Stolz trugen wir unsere mit neuen Hüten geschmückten Köpfe durch die Stadt. Es fühlte sich nach Sommer an.
CHAPTER DREI
1922
Wilhelmine saß vor dem Waschtisch in ihrem Schlafzimmer. Der neue Hut passte hervorragend zu ihren blonden Locken.
Sie hielt den kleinen Handspiegel so geschickt, dass sie ihr Aussehen von allen Seiten gut überprüfen konnte.
Wilhelmine fand sich hübsch.
Sie zupfte noch etwas an der Locke, die sich vorwitzig unter dem Hut hervorgewagt hatte. Ihre sonst eher glatten blonden Haare hatte sie mit einer Brennschere bearbeitet, so dass sie nun in weichen Wellen ihr Gesicht umspielten. Das Ergebnis gefiel ihr.
Der Hut hatte eine breite Krempe. Genau so, wie sie es erst neulich in einem Magazin gesehen hatte. Das Schleifenband war aus Seide.
Ich mag den neuen Hut, dachte Wilhelmine.
Und mich.
“Wilhelmine, kommst du?”, rief die Mutter inzwischen von unten. “Magda ist hier, um dich abzuholen.”
Ein Blick noch in den Spiegel und Wilhelmine lief die Treppen hinunter zu ihrer Freundin.
Die Freundin war ein bisschen jünger als Wilhelmine. Ein bisschen kleiner, ein bisschen runder. Magda war unkompliziert. Sie lachte gern und viel. Ihre Fröhlichkeit war ansteckend. Niemand konnte in ihrer Gegenwart lange ernst bleiben. Kein Wunder, dass Männer sie umschwärmten wie Motten das Licht. Aber genau wie Wilhelmine hatte sie überhaupt noch keine Lust, sich schon zu binden. “Der Richtige ist mir eben noch nicht begegnet”, zuckte sie mit den Schultern, wenn sie jemand fragte, warum sie denn immer noch nicht verheiratet war.
“Ich hab doch noch so viel Zeit”, lachte sie dann.
Wilhelmine fand, dass sie mindestens genau so viel Zeit hatte wie die Freundin.
Ihre Eltern fanden das nicht.
Ständig lagen sie ihr mit irgendwelchen guten Partien in den Ohren.
Aber Wilhelmine wollte nicht.
Heute sollte der Maibaum an der Linde beim Gasthof aufgestellt und mit bunten Bändern geschmückt werden. Alle jungen Burschen im heiratsfähigen Alter würden da sein. Genau so wie die Mädchen aus dem Ort, die das Angebot in Augenschein nahmen und vielleicht schon mal ein Auge riskieren, ein bisschen flirten und Charme und Chancen an dem Mann ihrer Wahl ausprobieren würden.
Wilhelmine und Magda hatten sich eingehakt und liefen über die Wiesen entlang der Skottau in Richtung Dorfplatz.
“Psst - guck mal”, sagte Magda, legte den Zeigefinger vor den Mund und ging vorsichtig in die Hocke.
“Was denn?”, fragte Wilhelmine.
“Psst!”, sagte Magda noch einmal und zeigte mit dem Finger zum Ufer des kleinen Flüsschens, wo das Wasser ganz leise plätschernd über ein paar Steine hüpfte.
“Ich sehe nichts”, sagte Wilhelmine, während sie mit ihren Augen das Ufer absuchte.
“Oh…”, rief sie dann plötzlich aus und schlug sich mit der Hand vor den Mund.
“Hast du gewusst, dass es bei uns Schildkröten gibt?”, fragte Magda.
“Ja klar, die europäische Sumpfschildkröte. Sie leben überall da, wo Störche zu Hause sind. Sie mögen trockene, sandige und sonnige Stellen und lieben Böschungen, Hänge und Waldränder, die nach Süden ausgerichtet sind, und davon haben wir hier eine Menge. Und Störche gibt es schließlich auch.”
“Streberin!”, lachte Magda. “Aber guck mal, die sieht aus, als würde sie uns beobachten.”
Die kleine Schildkröte hob das rechte Beinchen, hielt es in der Luft, so dass es in Richtung Linde zeigte, und ließ den Blick nicht von den beiden Mädels. “Ja, ich finde auch, sie starrt uns an”, stimmte Wilhelmine der Freundin zu. “Sie sieht aus, als wollte sie uns zeigen, in welche Richtung wir gehen sollen. Guck mal, das Beinchen.”
“Die ist klug! Sie zeigt in Richtung Dorflinde. Da wollen wir doch auch hin.”
“Vielleicht will sie uns aber auch etwas ganz anderes sagen.” Wilhelmine hatte das Gefühl, dass es um mehr als nur um das Fest an der Dorflinde ging. “Schade, dass wir nicht wissen, was in ihrem kleinen Köpfchen vorgeht”, bedauerte Magda. “Schildkröten sind weise. Sie hätte uns bestimmt sagen können, wen wir am Maibaum treffen.”
Ja, könnte ich, dachte die kleine Schildkröte. Aber selbst, wenn ich sprechen könnte - warum sollte ich das tun? Das seht ihr doch in ein paar Minuten selbst.
Das Tier nahm den Fuß herunter und stand wieder auf allen vier Beinen.
Sie hätte gern mit den Mädels geredet. Aber sie wusste auch, dass man letztendlich das Schicksal doch nicht kontrollieren konnte. Selbst wenn man wusste, was passierte.
Manchmal wünschte sie sich, sie wüsste weniger.
Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie jetzt geseufzt. So drehte sie sich nur um und ließ sich ins Wasser gleiten.
Die Luft war lau, weich und warm. Obwohl es erst der 1. Mai war, fühlte es sich wie Sommer an. Die Kinder sprangen barfuß um den Maibaum herum und versuchten ein paar Süßigkeiten zu ergattern, die von den Erwachsenen immer wieder in die Menge geworfen wurden.
In den Bäumen und Büschen hörte man Vögel zwitschern. Darunter junge Leute lachen. Die Alten im Dorf saßen vor ihren Bierkrügen und freuten sich an dem Anblick der hübschen Mädchen in luftigen Sommerkleidern, die sich in kleinen Gruppen anmutig bewegten und den Jünglingen schöne Augen machten.
“Guck mal, ist das nicht Juri?”
Wilhelmine deutete auf einen schmucken jungen Soldaten in polnischer Uniform: “Den hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.”
Magda sah ihre Freundin von der Seite an. Wilhelmines Augen leuchteten, die Wangen waren leicht gerötet.
“Ja”, sagte Magda nur und schluckte. Ihr Herz schlug schneller, als sie den Sohn der Landarbeiterfamilie sah, mit dem sie gespielt hatten, als sie noch Kinder waren.
“Juri!”, rief Magda, machte sich so groß, wie es mit ihrer Höhe von knapp einem Meter und fünfzig Zentimetern überhaupt möglich war, und ruderte mit den Armen ganz oben in der Luft.
Magdas hüpfende Gestalt zu übersehen war nicht möglich.
Juri grinste, winkte zurück, schnappte sich drei Gläser mit Maibowle und lief über den Platz auf die beiden Mädchen zu, die immer noch am Rande des Geschehens standen und das Ganze zunächst auf sich wirken zu lassen schienen.
Er lachte.
Dabei wurden zwei verschmitzte Grübchen in den Mundwinkeln sichtbar.
“Wie schön, euch zu sehen”, rief er gewinnend, überreichte jedem der Mädels ein Glas Bowle und machte eine leichte Verbeugung.
“Wo hast du gesteckt?”, fragte Magda strahlend, drückte ihrer Freundin das Glas in die Hand und fiel Juri übermütig mit einem Jauchzer um den Hals.
“Langsam, langsam …”, lachte Juri, machte sich vorsichtig los und stellte das Mädchen zurück auf seine Füße.
“Wonach sieht es denn aus? Wo könnte ich gewesen sein?” Er stellte sich in Pose. So, dass die Dienstkleidung richtig zur Geltung kam, die ein Soldat auch in seiner Freizeit zu tragen hatte. Er war stolz darauf, zur Streitmacht seines Volkes zu gehören. Doch im Grunde war er sicher, dass die Mädchen kaum wussten, was es bedeutete, eine Uniform zu tragen.
“Schmuck siehst du aus.” Magda betrachtete den Helden ihrer Kindheit anerkennend von oben bis unten.
Sie dachte nach.
“Wahrscheinlich warst du in Warschau”, überlegte sie. “Fürs Vaterland? Also für dein Vaterland? Deine Uniform sieht sehr … wie soll ich sagen? Auf jeden Fall ist sie beeindruckend. Also sie sieht sehr … mmh … respekteinflößend aus.”
“Aber offenbar nicht sehr einschüchternd. Sie hat dich nicht davon abgehalten, mir um den Hals zu fallen”, lachte Juri.
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