Er erhob sich, bot Karin seinen Platz an und sein Blick fiel auf ihr kleines Babybäuchlein. Er strich ihr wie beiläufig über die Schulter und ging ins Haus. Dort empfing ihn seine wütende Frau und als nun auch Papà Tozzi die Stimme erhob, schepperte und klirrte es wie wild in der Küche. Giancarlos Mutter schrie aus Leibeskräften. Plötzlich war da ein dumpfer Schlag und die Stimmen verstummten. Karin spürte ein leichtes Stechen im Unterleib und bekam Angst. Gerade als sie überlegte, was jetzt zu tun sei, stürmte Giancarlo nach draußen und nahm sie energisch an die Hand: „Komm mit, Amore, meine Mutter spinnt, hat sogar Sofa umgeschmisse. Dio mio! Komm, komm, der Onkel bringt uns in unsere Hotel.“ Seine Haare klebten ihm an der Stirn und er hatte Zornestränen in den Augen.
Seit diesem Zeitpunkt hatten die beiden kein Wort mehr über das gestrige Ereignis verloren. Karin wollte keine Details erfahren, sie ahnte, dass allein sie der Grund für die Auseinandersetzung war und dass es eine derartige Eskalation in Giancarlos Familie noch nie gegeben hatte.
Mit belanglosen Gesprächen hatten Giancarlo und sie seither versucht, den Streit unter den Teppich zu kehren. Ihre Gemüter hatten sich wieder entspannt, aber richtige Urlaubsfreude war seit ihrer Ankunft nicht mehr aufgekommen. Zumindest nicht bei Karin…
Mit jedem Schwimmzug begannen die unschönen Erinnerungen an den gestrigen Nachmittag allmählich zu verblassen. Die Sonne schien Karin ins Gesicht. Sie blinzelte und hielt inne - sie tastete keinen Boden mehr. Sie war schon ziemlich weit hinausgeschwommen. Sie drehte sich um und sah am Strand Giancarlo, der ihr mit zwei riesigen Eiswaffeln zuwinkte. Sie wollte jetzt kein Eis mehr, sie fand es so schön im Wasser.
Sie tauchte unter und erfreute sich an einem Schwarm kleiner Fische, der flink an ihr vorüber-zog. Giancarlo aber, der inzwischen seine strahlende weiße Strandkleidung in ein extravagantes Mosaik aus Erdbeer-, Schokoladen- und Pistazien-impressionen verwandelt hatte, rannte ihr entgegen – immer noch mit beiden Eiswaffeln in seinen Händen. Als er bis zur Taille im Wasser war, blieb er stehen und schrie: „Fai attenzione per favore, sind große Fische in die Meer, isse sehr gefährlich für kleine bambino und dich!“
„Giancarlo, hier sind keine Fische“, lachte Karin, „lass doch das Eis und schwimm mit mir!“ „No, no! Is buono Gelato, komme du su mir, Amore!“ Karin lachte. Sie schwamm ihm entgegen. Außer Atem erreichte sie ihren Verlobten, der ihr das Eis oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war, reichte. Sie umarmte und küsste ihn und um sie herum breitete sich allmählich ein kleiner Sahneteppich aus. Der alte, glatzköpfige Eisverkäufer am Strand beobachtete das Geschehen. Er schüttelte den Kopf, steckte sich eine Muratti an und murmelte: „Verrückte! Schade um das schöne Eis!“
Aus Elisabettas Tagebuch I
SAN Valentino, 30. Juni 1964
Mein liebes Tagebuch!
Welche Freude! Gestern kam Giancarlo, mein lieber Bruder aus Deutschland zu Besuch. Mehr als ein Jahr habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er hat seine Verlobte mitgebracht – Karin, eine Deutsche. Ein seltsamer Name! Er klingt so hart, wie ein Kommando. Aber sie ist sehr sympathisch. Matteo und ich wussten ja bereits, dass sich unser Bruder in Deutschland verliebt hat. Aber Mamma und Papà wussten nichts davon und alle anderen natürlich auch nicht. Mamma mia, haben die Augen gemacht, als hinter Giancarlo plötzlich diese elegante, blonde Frau vor dem Haus stand. Mamma war sehr unfreundlich zu Karin und ich habe sie deswegen geschimpft, aber es war nutzlos. Mamma hat Karin nicht einmal zur Begrüßung die Hand gegeben. In der Küche war sie ganz aufgebracht, weil Giancarlo und seine Freundin im Hotel wohnen. Sie seien ja nicht einmal verheiratet, hat Mamma gesagt. Es gehöre sich nicht und das stimmt natürlich. Auch ich hätte mich gefreut, wenn Giancarlo wie früher in meinem Zimmer geschlafen hätte, wir sind schließlich Zwillinge und waren schon immer sehr eng zusammen.
Giancarlo hat mir eine pastellgrüne Wolljacke mitgebracht, die kann ich im Winter tragen. So was tragen in Deutschland die Frauen nur im Büro, sagt Giancarlo. Ich sehe damit ein bisschen aus wie eine Schauspielerin, hat er gesagt, die Jacke gefällt auch mir sehr gut. Außerdem hat mir Giancarlo schöne Fotomagazine dagelassen. Auch wenn ich sie nicht lesen kann – die Bilder sind toll…..Doris Day, Jean Simmons, Gina Lollobrigida, Audrey Hepburn….Was würde ich darum geben, auch eines Tages in einem solchen Heft abgebildet zu sein.
Es gäbe viele schöne Dinge in Deutschland, hat Giancarlo erzählt. Das Essen sei aber lange nicht so gut wie in Italien, und Karin wäre auch nicht die geborene Köchin. Nach Feierabend würden sie meist Spiegelei oder Würstel braten und am Wochenende wären sie meist bei ihren Eltern eingeladen. Die hätten eine kleine Villa mit einer großen Terrasse und Karins Mutter würde gerne kochen, wenn natürlich auch nicht so gut wie unsere Mamma. Mamma hat das alles überhaupt nicht interessiert.
Karin hat uns deutsches Brot mitgebracht, es sah ganz grau und so ganz anders als unser Brot aus. Giancarlo hat gesagt, wir sollen es mal probieren. Also, um ehrlich zu sein – mir hat es nicht geschmeckt und Matteo sah auch nicht gerade begeistert aus. Mamma aber hat ihren Bissen gleich wieder ausgespuckt und zu Giancarlo gesagt, dass er sein Brot selbst behalten könne. Dann hat sie noch etwas sehr Hässliches über Karin gesagt und Giancarlo ist auch böse geworden und wollte nicht einmal mehr zum Essen bleiben. Er hat gesagt, er würde Karin noch in diesem Jahr heiraten, ob in Deutschland oder in Italien, das hinge ganz von ihr ab, und es wäre ihm auch egal, aber er würde Karin auf alle Fälle zur Frau nehmen.
Mamma hat vor Wut einige Möbel umgeschmissen. Sie war total hysterisch und konnte sich erst beruhigen, als ich ihr die Pillen gegeben habe. Seither schläft sie. Wie gesagt, ich finde Karin sehr sympathisch. Giancarlo hatte mir ja schon vor einem halben Jahr ein Foto geschickt: Da hatte er den Arm um sie gelegt und die beiden lehnten an einem Fahnenmasten am Lago di Costanza. Im Hintergrund sieht man hohe Berge – sogar mit Schnee auf den Spitzen. „Das ist meine neue Heimat“, hatte Giancarlo auf die Rückseite des Schwarz-weiß-Fotos geschrieben. Vielleicht hätte ich es doch Mamma vor seinem Besuch mal zeigen sollen?
Auf dem Foto ist Karin übrigens viel schlanker als in Natura. Vielleicht kommt ihr Bäuchlein ja von dem komischen grauen Brot?
Ein Dialog im Schlafzimmer
Papà Tozzi: „Warum weinst du?“
Mamma Tozzi: „Ich weine überhaupt nicht.“
Papà Tozzi: „Tust du doch!“
Mamma Tozzi: „Nein, das stimmt nicht.“
Papà Tozzi: „Doch, das stimmt. Hier fühl mal - dein Kopfkissen ist schon ganz nass.“
Mamma Tozzi: „Grabsch mich nicht an, du alter Trinker!“
Papà Tozzi: „Warum bist du immer so garstig, Teresa?“
Mamma Tozzi: „Ach, halt schon den Mund!“
Papà Tozzi: „Teresa, so gönn` dem Jungen doch sein Glück!“
Mamma Tozzi: „Glück? Beeh! Er wollte doch nur ein paar Jahre nach Deutschland, um Geld zu ver-dienen. Er wollte doch wieder zurück. Plötzlich weiß er nicht mehr, wo er hingehört.“
Papà Tozzi: „Er hat sich eben nun mal verliebt!“
Mamma Tozzi: „Verliebt, verliebt! Ein schönes italienisches Mädchen hätte er haben können. Viele schöne Mädchen…Magdalena zum Beispiel. Oder eine andere. Sie sind Schlange gestanden bei ihm, erinnerst du dich gar nicht mehr daran?“
Papà Tozzi: „Karin sieht auch sehr hübsch aus.“
Mamma Tozzi: Ach, was weißt du denn? Deine Sinne sind schon längst vom Trinken und Rauchen getrübt!“
Papà Tozzi: „Sie ist freundlich und Giancarlo liebt sie. Und sie ihn auch….wenn da nicht mal bald was Kleines unterwegs ist.“
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