„Hi. Was kann ich für dich tun?“ Diese Frage kommt mir seltsam vor, denn eigentlich wird diese Frage in der letzten Zeit ausschließlich an mich gerichtet, und nicht umgekehrt. Die Herbstfrau zuckt mit den Schultern „Ich dachte, … Hast du noch ein wenig Zeit? Vielleicht könnten wir zusammen was trinken gehen?“ Ich überlege einen Moment. Warum eigentlich nicht? Sie scheint nett zu sein, und außerdem ist das der erste mehr oder weniger private soziale Kontakt seit … ich weiß es nicht mehr. Aber ich spüre, dass ich ihr vertrauen kann und bin froh über ihr Angebot. „Gerne.“ Augenblicklich weicht ihre Unsicherheit einem breiten Lächeln als Zeichen der Erleichterung. Ich folge ihr aus dem Gebäude hinaus auf die recht belebte Straße nahe der Stadt. Wir sprechen kaum ein Wort, sondern legen den direkten Weg zu einem kleinen Café zurück, das sie bereits gut zu kennen scheint. Wir nehmen Platz und atmen tief durch, ehe wir unser eigentliches Gespräch beginnen.
„Ich freue mich, dass du mein Angebot angenommen hast. Irgendwie fühle ich mich in letzter Zeit ein wenig … einsam.“ Ich nicke, denn ich weiß genau, was sie meint. „Ja, das kenne ich. Ich bin froh, dass du mich gefragt hast. Vielleicht tut es mir doch ganz gut, mich auch außerhalb dieser Gruppe auszutauschen. Ich muss sagen, ich komme mir ein wenig vor, wie auf einer Anklagebank. Schuldig irgendwie, fehlerhaft, nicht ganz richtig. Dabei kann ich ja gar nichts dafür. Niemand kann etwas dafür, aber trotzdem fühle ich mich unwohl.“
Ich zucke mit den Schultern und lächle verlegen als ich merke, dass ich einfach drauf los geplappert habe. Aber mein Gegenüber lächelt und fühlt sich offensichtlich verstanden. Während unsere Tassen vor uns platziert werden, beißt sie sich auf die Lippe. Irgendetwas scheint ihr auf dem Herzen zu liegen, und derzeit bin ich gerne bereit, ihr zuzuhören. Zumindest glaube ich, dass ich das gleich tun soll.
„Was ist los? Erzähl schon,“ ermuntere ich sie zum Reden. Sie schnauft und gibt sich einen Ruck. „Du hast erzählt, dass du nichts mehr weißt aus deiner Vergangenheit und dass niemand weiß, wer du bist. Auch dein genaues Alter kennst du nicht. Ich stelle mir das furchtbar vor. Wie lebt man denn damit? Wie geht das Leben weiter, wie fasst man wieder Fuß? Ich meine, du musst doch jemand sein?“
Ich weiß genau, was sie meint und erzähle ihr vom Erlangen meiner neuen Identität, an die ich mich auch nach zwei Monaten noch immer nicht gewöhnt habe. „Die Polizei und die Ärzte haben mir sehr geholfen. Sie haben mir Beratungsstellen genannt, haben sich für mich mit der Verwaltung in Verbindung gesetzt und dafür gesorgt, dass ich – zumindest vorläufig – eine neue Identität bekomme. Ich habe also einen neuen Namen bekommen, den ich mir aussuchen durfte und habe eine kleine Sozialwohnung zugeteilt bekommen. Ich wurde mehrfach ärztlich untersucht um eventuelle Krankheiten oder sonstige Merkmale festzustellen. Auch zur Feststellung meines Alters war eine Untersuchung notwendig, und scheinbar muss ich um die sechsundzwanzig sein. Arbeiten kann ich derzeit nicht, Versicherungen musste ich allesamt neu abschließen und der Staat unterstützt mich finanziell. Keine tolle Situation, aber ich hatte quasi nichts, als ich mich im Krankenhaus wiederfand. Irgendjemand hat mir innerhalb von Sekunden alles genommen.“
Ich bin versucht, meinen Tränen freien Lauf zu lassen, reiße mich aber zusammen und schlucke den Kloß in meinem Hals tapfer herunter. Mittlerweile habe ich Übung darin. Die rothaarige Frau sieht mich an, als sei ich eine bewundernswerte Person, ein Star oder so was. Ihre grünen Augen sind weit aufgerissen, der Mund steht ihr offen vor Staunen. Kaum merklich schüttelt sie den Kopf. Tief im Innern muss sie erleichtert sein über die Tatsache, dass sie glimpflicher davon gekommen ist als ich.
„Das tut mir sehr leid. Und es gab wirklich niemanden, der eine Vermisstenanzeige aufgegeben oder sonst irgendwie nach dir gesucht hat? Ich meine … Jeder hat doch irgendjemanden, oder?“ Ihre Stimme ist kaum mehr ein leises Piepsen und ich spüre deutlich, wie unangenehm ihr diese Fragen sind. Traurig lächelnd schüttele ich den Kopf. „Nein, niemand. Auch auf die Anzeige der Polizei hat sich bislang niemand gemeldet der glaubt, mich zu kennen. Es ist noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt hier aus der Gegend stamme. Niemand weiß auch nur überhaupt etwas über mich, und am wenigsten ich selbst.“
Plötzlich erkenne ich, wie gut es tut, offen mit jemandem darüber zu sprechen, der mir einfach nur zuhört. Jemand, der mich nicht behandeln oder etwas erforschen will, sondern einfach jemand, der sich für mich – wer auch immer ich bin – interessiert.
„Tja, so wurde ich zu Lilly Jenkins. Ich bin gespannt, wie sie eines Tages sein wird.“
Auf der Suche nach dem Glück
Der Wecker klingelt und reißt mich aus einem unruhigen Schlaf. Zeit, um aufzustehen. Dabei habe ich so gar keine Lust auf die vielen mitleidigen Bemerkungen im Büro und die fragenden Blicke der Mandanten, wenn sie in meine müden und traurigen Augen sehen. Ich schätze, die Sekretärinnen tuscheln auch schon, aber darauf lege ich ohnehin keinen Wert, die reden viel, wenn der Tag lang ist. Mühsam stehe ich auf und laufe ins Bad. Jeder Schritt und jeder Atemzug erinnert mich daran, wie einsam ich bin. Eigentlich sollte ich ein junger, erfolgreicher und gutaussehender Anwalt sein mit einer hübschen Freundin an seiner Seite, die er mit Liebe, Aufmerksamkeit und kleinen Geschenken überhäufen kann.
Stattdessen bin ich ein einsamer Mann mit ausdruckslosem Gesicht, Falten, Bartstoppeln und zerzaustem Haar, das sich nur mit Mühe und Not wieder in die Reihe bringen lässt. Ein kurzer Blick in den Spiegel verrät mir, dass mir ein Rest Zahnpasta im Mundwinkel hängt und ich mich selbst viel zu sehr bemitleide. Im Grunde genommen übertreibe ich, und ich weiß das auch. Es ist heute keine Besonderheit mehr, verlassen zu werden. Ich selbst habe oft genug Frauen verlassen von denen ich dachte, dass sie mich auf Dauer nicht hätten glücklich machen können oder dass sie etwas Besseres verdient hätten als mich. Und ich habe mich nicht ein einziges Mal darum geschert, wie viele Herzen dabei gebrochen wurden.
Aber diesmal ist es anders, denn es ist mein Herz, das gebrochen wurde. Zum ersten Mal dachte ich, es sei etwas Ernstes. Ich habe Elizabeth geliebt, habe sie verehrt, sie war mir wirklich wichtig. Ich hatte sie fragen wollen, ob sie bei mir einziehen will, ob sie meine Frau werden will. An diesem einen Wochenende, für den Samstag, hatte ich diese Aktion mit dem Candle-Light-Dinner geplant, doch dieser Samstag kam nie. Der Ring liegt noch immer in der Tasche meines Sakkos, das ich achtlos über den Sessel im Wohnzimmer geworfen habe. Dort liegt er nun seit mehreren Wochen. Oder sind es gar schon Monate? Ich habe keine Ahnung, jedenfalls ist sie schon eine ganze Weile weg. Elizabeth. Sie hat mich einfach verlassen, von heute auf Morgen, ohne jegliche Vorankündigung. Ich kenne bis heute keinen Grund, und auch erreichen konnte ich sie nicht mehr. Irgendwann habe ich es aufgegeben und suhle mich bis heute in meinem eigenen Schmerz.
Auch die tägliche Dusche kann dieses schwere Gefühl nicht fortspülen, und so trage ich die Last mit mir in die Kaffeebar und anschließend ins Büro.
„Guten Morgen.“ Zaghaftes Nicken macht die Runde unter den Frauen, die meine Briefe und die der Kollegen zu Papier bringen. Ich sehe, dass sie ihrer Arbeit nachgehen, aber ich spüre deutlich, dass sie sich ihren Teil denken. Dabei geht es sie gar nichts an. Mich schert deren Privatleben doch auch nicht. Anstatt mich weiter darüber zu ärgern, suche ich mein Büro auf und schalte sämtliche Geräte ein, die mich durch den Tag begleiten. Plötzlich klopft es an der Tür.
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