Christian Behrens - Eugens Steppe

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"Ich rede von diesen beschissenen Versuchungen überall in diesem Deutschland, von den Dingen, die dir dein Hirn verkleben … du wirst nachgeben und das macht mich so wütend! Du wirst den Verlockungen erliegen und glauben du hättest hier eine Heimat gefunden. Geh' zurück, geh' in dein wahres Leben."
Wo endet Migration und wo beginnt Heimat?
Eugen Schreiber kommt aus Kasachstan nach Deutschland, um hier seinen Traum von einem besseren Leben zu verwirklichen. Doch trotz eines deutschen Passes, ist der junge Russlanddeutsche ein Fremder in diesem Land. Als Unterqualifiziertem bleiben ihm nur schlecht bezahlte Helferjobs. Weil er in Kasachstan Umgang mit Pferden hatte, stellt ihn ein Schmied als Helfer ein. Mit seinem Chef arbeitet Eugen in den verschiedenen Reitställen und lernt die Lebenswelt der unterschiedlichsten Menschen und ihrer Pferde kennen, eine absurde Gegenwelt zum Wohnheim, in dem Eugen lebt. Dort erfährt er das Gefühl der Isolation, da er sich weder als Asylant empfindet, noch wirkliche Anknüpfungspunkte in seiner neuen deutschen Heimat findet. Eugen steigert sich zunehmend in den Glauben hinein, dass nur der materielle Erfolg seine seelische Zufriedenheit herbeiführen kann, ihn hier endlich heimisch werden lässt.
In Tagträumen – Starrungen – erinnert sich Eugen an die ihm vertraute Welt in Kasachstan, zu der auch die Frau seines Bruders gehört. Eine Seelenverwandte, ein uneingelöstes Versprechen … schmerzende Erinnerungen aus einer archaischen Welt.
Als Eugen feststellt, dass er durch die harte körperliche Arbeit seine Wünsche nicht erfüllen kann, beschließt er, seinen erfolgreichen Cousin Arthur und dessen Frau Irina zu besuchen. Eine Entscheidung, die ihn erkennen lassen wird, wozu er wirklich fähig ist.

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„Eugens Steppe“

Romanartige Erzählung

von

Christian Behrens

Impressum

„Eugens Steppe“

Christian Behrens

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Christian Behrens

ISBN 978-3-8442-3626-2

Einstieg

Kolja drückt mir seine Hand auf die Schulter. Ich mag diese gespielte Zärtlichkeit nicht, sie beunruhigt mich immer wieder aufs neue. Aber jetzt, hier in diesem zivilisierten Stehcafé, fühle ich durch diese Hand etwas Kräftiges, Familiäres, etwas von meinem Stamm, das mich sicher in der Höhle schlafen lässt, während draußen der Sturm tobt. Beinahe hätte ich meine Wange auf Koljas grobe Hand gelegt, doch ich kann mich mittlerweile beherrschen.

An dieser Stelle möchte ich, Eugen Schreiber, darauf hinweisen, dass man unsere Beziehung zu keinem Zeitpunkt hätte freundschaftlich nennen können. Im Gegenteil: Koljas oberflächliches Lächeln und seine brüderlichen Berührungen lassen keinen Zweifel daran, dass ich nur ein notwendiges Übel bin.

Wir geben uns die Hände. Meine Hand bemüht sich kräftig, seiner etwas Bemerkenswertes entgegen zu drücken. „Der Wagen steht bei den Taxis!“ Kolja macht eine auffordernde Kopfbewegung.

Am Taxistand erwartet uns schon ungeduldig einer von diesen 'Wartepfeifen', die das Abhängen zum Beruf kultivieren. Als er sich sicher ist, dass wir zu dem Wagen auf seinem Platz gehören, stellt er sich Kolja in den Weg und droht mit Anzeige, Polizei und überhaupt, wie Kolja dazu käme ... Ich setze mich gleich in den Wagen.

Obwohl ich Kolja noch nicht sehr lange kenne, habe ich sein Wesen gleich durchschaut: Oberflächlich betrachtet wirkt er ruhig, ja geradezu zurückhaltend, sein Handeln ist jedoch völlig unberechenbar. Kolja geht provozierend langsam um seinen Wagen und sucht die wütenden Augen des Kläffers vor der beigefarbenen Limousine. Abwartend baut er sich mit verschränkten Armen vor dem Taxifahrer auf, um ihm dann mit seiner Stirn einen wuchtigen Kopfstoß zu versetzen. Selbstsicher lächelnd umkreist er zufrieden sein Opfer. Ohne ein Anzeichen von Eile, fast schon gelangweilt, setzt er sich zu mir in den Wagen und startet den Motor. Bis wir auf die Hauptstraße einbiegen, sehe ich noch, wie sich der Taxifahrer, den blutenden Kopf haltend, auf das weiße Lammfell des Autositzes fallen lässt.

Da es bisher in solchen Situationen zu keinerlei Konsequenzen für uns kam, wich meine anfängliche Angst einem angenehmen Gefühl der Bequemlichkeit. In Koljas Nähe fühlte ich mich trügerisch sicher. Mir ist durchaus klar, dass seine Entgleisungen sich auch gegen mich richten könnten. Wir biegen auf die Hauptstraße ein.

Durch die verschmierten Autofenster überdenke ich, was sich bald abspielen wird. Es ist mir in seiner ganzen Auswirkung bewusst und äußert sich danach jedes Mal von Neuem in denselben Symptomen: Schlaflosigkeit, das erschreckende Spiegelbild am Morgen, mit der ungläubigen Miene, sich erkannt zu haben.

Das Wort 'abspielen' wähle ich übrigens aus dem Grunde, da es sich dabei um eine filmreife Szene handeln wird. Nur die Darsteller werden improvisieren. Wir haben gar kein richtiges Drehbuch, eher eine grob vorgegebene Rahmenhandlung, in der wir frei agieren können. Kolja ist dabei sehr wichtig, denn er hat als Regisseur und Hauptdarsteller das gewisse Einfühlungsvermögen, wann man eine Szene schneller machen muss, oder wann in einem Dialog eine Pause gesetzt wird. Jedenfalls hat er unter seinem fein rasierten Kinn eine bläuliche Tätowierung auf dem Hals, so eine primitive Erinnerung an den Knast. Kolja trägt immer noble Klamotten, aber diese Tätowierung mit ihrer dilettantischen Machart verstärkt nur den Eindruck seine Gefährlichkeit.

Was mich angeht, so bin ich von seiner Hemmungslosigkeit fasziniert. Nicht der kindliche Drang, ihm gefallen zu wollen, hält mich bei ihm, sondern die Faszination, dass Kolja in dieser Gesellschaft ein natürliches Phänomen darstellt, ein nicht erklärbares Naturschauspiel, dem die Zivilisation nichts weiter entgegenzusetzen hat, als ein hilflos staunendes Beobachten. Wie er diese hilflose Ohnmacht erzeugt und was sie in mir hinterlässt, ist der Grund für meine treue Gefolgschaft.

Der heutige Fall, wegen dessen wir uns getroffen haben, behandelt einen deutsch-russischen Tierarzt, der, aufgrund einer fehlenden Zulassungs- voraussetzung, seiner Arbeit hier nicht mehr nachgehen darf und aus Mangel an finanziellen Reserven beträchtliche Verbindlichkeiten bei Koljas Auftraggebern hat.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich von dieser Einführung halten soll. Im ersten Moment hört es sich nach einer einfachen, moralisch unverfänglichen Situation an, mit der ich mich anfreunden könnte: klare Grenzen, in denen man das Wort sucht, ohne aufzugeben, wo alles kultiviert und harmonisch verläuft. Jedoch liegt die Unwägbarkeit in den Möglichkeiten, wie die Natur sich ihre Bahn brechen wird, ehe sie uns ihr wahres Gesicht zeigt.

Wir biegen in eine Hochhaussiedlung ein. Auf einer Hauswand steht 'QUADRATISCH, PRAKTISCH, WUT!!!!' gesprayt. Mehrere Typen stehen um ein Auto herum, dessen Türen offen sind. Der Homeboy im Wagen beschallt mit tiefen Bässen die Nachbarschaft, fuchtelt mit einem Butterfly herum; die anderen rauchen linkisch, rotzen nach jedem Wort vor sich auf den Boden.

Die Hausnummer neun zu finden, ist schwierig. Alle Lampenkästen mit den aufgeklebten Hausnummern sind runter gerissen worden.

Mein eigentliches Interesse gilt mehr dem gegenüberliegenden Waldstück. Die Häuserblocks grenzen direkt daran an, sodass der Eindruck entsteht, hier wird der Zivilisation Einhalt geboten und die Wildnis hier beginnt. Mich überfällt eine feuchtwarme Automüdigkeit und der Wald lockt meine Sinne. „Wir sind da!“ Koljas Stimme klingt erleichtert. Wir schälen uns aus unseren Sitzen, gehen zum Hauseingang. Eigentlich suche ich den Namen des 'Kunden' nicht wirklich.

Den glutenden Horizont vor Augen, umfängt mich die Dunkelheit hinterrücks. Mein Blick schweift wieder zum Wald. Bäume wiegen sich im Wind. Ich nehme noch einen Luftzug, bevor Kolja mich in den Eingang zieht. Wie warm hier die Winter sind! Die Tür drückt sich stotternd zwischen mich und meinen Wald.

Im Inneren des Hauses beängstigendes Gekreische und Stöhnen, dazu Musikfetzen, Licht an – aus, Hundegebell, kein Mensch da. Es riecht nach Pisse, Farbfratzen an den Wänden, ein Knall, Glas splittert, Gelächter. Wir stehen vor der Tür. Ein leichtes Schwindelgefühl, ich stütze mich an der Wand ab. Kolja bedeutet mir zu klingeln. Er bezieht Deckung an der Wand. Mir wird übel.

Die Tür wird geöffnet und zum Vorschein kommt ein feines, freundliches Gesicht. „Ja bitte?“ „Sind sie der Tierarzt?“, frage ich stockend. Es bejaht und nickt.

Kolja drückt mich zur Seite und tritt mit voller Kraft gegen die Tür. Augenblicklich platzen die Lippen des Arztes, sein Nasenbein bricht, da die Türkante direkt in sein Gesicht schlägt. Durch die Wucht wird er nach hinten geschleudert, wo er nach zwei Schritten die Balance verliert und auf die Mülltonne fällt. Kolja bringt sich in Stimmung. Seine pulsierenden Halsadern hauchen der Tätowierung jetzt Leben ein. „Pass auf, alter Mann, ich frage dich nur ein Mal: Wo ist das Geld?“ Koljas Stimme ist ruhig. Seine Professionalität beeindruckt mich immer wieder. Der Tierarzt röchelt irgendetwas; Blut läuft ihm in den Rachen.

Ein kleines Mädchen steht in der Tür und beobachtet mit versteinerter Miene die Szene. Die Tochter des Blutenden. Kolja steht mit einem Fuß auf dem Hals des Vaters und dreht sich dann zu mir um: „Kümmere dich darum!“

Jetzt trete ich über die Schwelle - in den inneren Kreis. Ungewollt und doch mit Absicht. Erliege dem unwiderstehlichen Duft, der aus dieser Wohnung strömt und mich aus den friedlichen Tiefen meines Waldes lockt, mich bis aufs Blut reizt, mich durch das Treppenhaus jagt und mich meiner Erlösung entgegen stürmen lässt. Meine Hände verschließen die Tür.

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