Ein großer, roter Kastenwagen fährt langsam auf den Parkplatz. Schon ein neueres Modell, das kann er an der Form des Kühlergrills erkennen. Das müsste der Chef sein. Ja, ja genau: großer, roter Kasten! Er geht dem Fahrzeug entgegen, stockender Verkehr, kurzes Hupen. Der Chef hinter der Scheibe winkt Eugen zu sich und öffnet, indem er sich weit zur Beifahrerseite hinüber streckt, die Sicherung des Türschlosses. Eugen eilt auf die offene Türseite zu.
„Bist du der vom Arbeitsamt? Haben wir telefoniert?“
Eugen nickt.
„Na, dann spring mal rein! Bevor die mich hier noch aus dem Wagen zerren oder abschleppen.“
Der Tonfall klingt etwas genervt, doch die Stimme seines Chefs ist so wie am Telefon. Er ist nur jünger als erwartet, vielleicht so um die dreißig. Dieser Eindruck entsteht wohl durch das volle schwarze Haar. Volles Haar macht Männer jünger und so unberechenbar, wie kleine Jungs, die immer irgendetwas aushecken und nicht erwachsen werden wollen.
Dazu ein blauer Overall, der wie ein riesiger Strampelanzug aussieht. Eugen fühlt sich gut. Er hat einen Spielkameraden gefunden und springt in den Wagen.
Im Inneren des Fahrzeugs bemerkt Eugen sofort einen starken Geruch. Kein Gestank, wie jene diesen Geruch nennen würden, die immer zuerst alles einordnen kategorisieren und Wertigkeiten festlegen, statt sich einfach dem Ungewohnten hinzugeben. Eben jenen, denen der Moment verwehrt sein wird, den eigenen, verschütteten Eindrücken nachzuspüren oder sich dieser Eindrücke zu erinnern: Momente in denen sie sich einfach nur unendlich glücklich fühlten oder zutiefst verängstigt waren. Wie diejenigen, die sich solcher Eindrücke entziehen; die nicht bereit sind, den Sinnen zu folgen und ihnen einen festen Platz in ihrem Inneren zu geben, aus dem heraus sie jeder Zeit ihre natürliche Offenbarung empfangen könnten .
Fett und breit liegt der Geruch von verbranntem Horn über den Geräten und Regalen des Wageninneren, verbrüdert mit kaltem Rauch und Eisenstaub. Eugen schmeckt den Kohlenruß, dessen sich seine Schleimhäute betäubt erinnern. Diese Gerüche kennt er – aber wie kommen sie hierher! Kurz schließt er die Augen, weil seine Nase es verlangt. Er riecht auch Kleber oder Chemisches, was scharf in die Nase geht und da ist auch noch ...
Sein Chef ist damit beschäftigt, den großen roten Kasten aus dem engen und aggressiven Innenstadtverkehr heraus zu manövrieren. „Was hat'n der Typ vom Arbeitsamt gesagt, was ich suche?“ Sie hätten ihm da nur gesagt, es habe mit Pferden zu tun und mit denen kennt er sich ein wenig aus.
„Das ist im Prinzip schon richtig, es hat mit Pferden zu tun, ob du dich mit denen auskennst, wird sich aber noch zeigen.“ Ein eher prüfendes Cheflächeln trifft Eugen, ein Lächeln, das wahrscheinlich schon viele Mitfahrer gesehen haben.
„Ich bin Hufbeschlagschmied und brauche unbedingt 'nen Aufhalter, so 'ne Art Mithelfer.“ Auf Eugens ratlos wirkendes Gesicht hin, was nichts damit zu tun hat, dass er den Beruf nicht kennt, sondern dessen aufwendige Bezeichnung nicht ganz versteht, formuliert er es anders: „Ich zieh' den Pferden die Schuhe an! Alles klar?“ Dabei macht der Chef eine hämmernde Bewegung mit der Hand.
„Ich schaff ' das nicht mehr alleine, mit so vielen Kunden. Das wird jetzt echt zu heftig.“ Beim Sprechen lehnt er sich selbstgefällig zurück und stemmt seinen Fuß breitbeinig gegen die Mittelkonsole. „Ich bin zwar nur 'ne 'One Man Show', aber im Moment brummt der Laden. Wenn ich jetzt nicht langsam 'ne Entlastung bekomme, kann ich mich in 'nem Jahr begraben lassen. Das ist der totale Knochenjob, absolut hardcore, wirst 'de ja vielleicht noch merken, aber ich lass' mir keinen Bock durch die Lappen gehen! Bringt 'ne Menge Kohle! - Und deine Erfahrungen mit Pferden?“
Verlegen wendet Eugen sein Gesicht zu Boden und erklärt kleinlaut, selber Pferde beschlagen zu haben, weil es dort, wo er herkommt, niemanden gibt, der es hätte machen können.
„Das ist ja spitzenmäßig! Da hab' ich ja wohl den absoluten Volltreffer gelandet!“ Die Miene des Chefs wird das erste Mal richtig freundlich. „Dann brauch' ich dir nich' lange erklären, was Sache is'. Spart 'ne Menge Zeit und Angst hast du dann auch keine vor den Böcken. Ich kann dir sagen, da erlebt man manchmal echt geile Storys mit den Leuten.“
Eugens Vermutungen gehen in die Richtung, dass die Sache jetzt gut für ihn läuft, weshalb er sich etwas entspannt und mit dem Rücken an den Sitz lehnt.
„Dein Akzent, sag' ma', is' irgendwie polnisch oder so, oder wo kommst du her?“ Die lässige Sitzposition verlassend, gibt er leicht stotternd an, er sei aus Kasachstan, aber eigentlich Deutscher mit sowjetischer Geburtsurkunde. „Na bestens, Alter! N'en Kollege von mir hat auch n'en Russen, seitdem gibt’s kein Stress mehr mit den Böcken, so'n richtiger kleiner Pferdeversteher, der hat sie alle im Griff. Vielleicht bist du ja auch n'en Pferdeflüsterer? Könnte ich gut gebrauchen, hab' so'n paar richtige Mistviecher in der Kundschaft. Dann weißt du schon mal, was auf dich zu kommt.“
Sie verlassen den hektischen Innenstadtring in Richtung Norden. Fahren vorbei an kleineren Geschäften mit neonfarbenen Ausverkaufaufklebern, angegrauten fünfziger Jahre-Fassaden und Dönerbuden, die den Sprung in die City nicht geschafft haben.
Über seine genaue Tätigkeit würde Eugen gern mehr erfahren, aber er will seinen Chef jetzt nicht mit einer vorlauten Frage unterbrechen, sondern geduldig seinen Ausführungen folgen, denn er hat ja noch viel zu lernen.
„Als ich mit dem Job angefangen habe, musste ich auf vermatschten Wiesen Ponys auschneiden, die von den Besitzern nur als lebende Rasenmäher benutzt werden, oder Gnadenbrotpferde, die nur einmal im Jahr 'nen Schmied sehen. Kannst'e dir ja vielleicht vorstellen, was da an Horn dran war. Hab' da manchmal fast 'ne Stunde gebraucht und Theater haben die natürlich auch gemacht. Oder die Jährlinge und Dreijährigen ... Darf gar nicht dran denken, wie oft ich durch die Gegend geflogen bin. Musste eben nehmen, was kam. Egal, jetzt hab' ich mich durchgebissen, kann mir die Böcke aussuchen. Mach' hauptsächlich Beschlag, da kommt die Kohle rein. Da pick' ich mir schön die Sportpferde raus, die stehen ruhig, gute Arbeitsbedingungen. Trocken und so, weißt du. Und die Besitzer lassen mich in Ruhe. Quatschen mich nicht zu mit Fragen, wie diese ganzen Wald- und Wiesen- Reiter, die jedes Mal mit 'nem neuen Kram ankommen, den sie in irgendeiner Pferdezeitung gelesen haben. Diese ganzen Pferdeleute mit ihrer sentimentalen 'Hanni&Nanni auf dem Immenhof'- Mentalität! Da krieg' ich die totale Krise!“
Seinen Chef betrachtend, weiß er nicht genau, was gemeint ist, aber Eugen kennt diese Art Arbeit. Und wenn er sich richtig anstrengt, die Sache gut macht, wird er das Andere auch noch verstehen.
„Jedenfalls beschlage ich jetzt nur noch in den großen Reitanlagen. Ganz andere Liga, sag' ich dir! Alles sauber, trocken, ruhig. Die Böcke alle rundum beschlagen, das bringt die Kohle. Das ist für mich zivilisiertes Arbeiten. Gut, die Besitzerinnen sind schon manchmal ganz schön arrogante Zicken. Aber die musst du nur zu nehmen wissen, dann hat man seine Ruhe.“
Ganz sicher ist er bei seinem Chef an der richtigen Adresse. Der weiß, wo es lang geht! Schon alleine der große, neue Wagen und wie er sich mit Pferden und Frauen auskennt, dass wird ihm den Einstieg in das Leben hier bestimmt leicht machen. Selbstverständlich benutzt Eugen jetzt seine Rückenlehne.
Die Ausfallstraße wird einspurig und der Verkehr beginnt zu stocken. Auf dem gegenüberliegenden Brachland einer stillgelegten Zeche wird eine Brückenauffahrt angeschüttet. Im Minutentakt kneten riesige Sattelschlepper den verdreckten und überforderten Asphalt durch, wenn sie die mit Muttererde beladenen Auflieger langsam durch die Einfahrt wuchten. Manchmal verlieren die LKW's größere Erdschollen. Unterdessen versucht ein professioneller Feierabendfahrer, hinter einem LKW klebend, der langen Wartephase einer Straßenbauampel zu entkommen. Indem er rechts ausschert, um in die nächste Seitenstraße einbiegen zu können, und versucht zu überholen, zieht er den Zorn seiner Leidensgenossen auf sich.
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