Real ist, was mit unseren Sinnen erfahrbar ist. Das ist mein eigener, ganz praktischer Ansatz ohne jeden wissenschaftlichen, philosophischen oder wie auch immer gearteten Anspruch. Die Natur um uns herum ist erfahrbar: Das Wetter, die Härte eines Steines, die Entwicklung einer Pflanze, das Verhalten eines Tieres. Wie uns etwas schmeckt, wie es riecht, wie es aussieht und wie es sich anhört und anfühlt. Der Rasenmäher, das Lagerfeuer, ein Erdbeereis. Berührung, Wolle, Filz, Kiesweg, Rasen, Wasser, Matsch. Das macht unsere Realität aus. Wir repräsentieren die äußere Welt in unserem Kopf. Wie wir mittlerweile wissen, übersetzen wir dabei ein chemisch-elektrisch weitergeleitetes Signal in eine Information und bilden daraus Muster der Wiedererkennung. Unsere äußere, objektiv erfahrbare Welt wird in unserem Inneren repräsentiert. Unsere Vorstellung sorgt für eine Abbildung der Äußeren Welt in unserem Inneren.
Unsere Wohnung zum Beispiel ist eine uns besonders vertraute Umgebung, die wir selbst prägen und individuell gestalten. Wir können uns unsere Wohnung auch vorstellen, wenn wir nicht dort sind. Wir kennen den Weg ins Bad fast schon im Schlaf. Wir lieben unsere Möbel und die Ordnung unserer Dinge. In unserem Kopf haben wir auch einen Lageplan für die Wege, die wir täglich außerhalb unserer Wohnung zurücklegen. Wir können uns sogar die Menschen vorstellen, denen wir öfter begegnen, nicht nur, wie sie aussehen, sondern auch ihre Stimmen, wie sie riechen und was sie typischerweise zu uns sagen würden. Unser Sehen bestimmt zu etwa 80 Prozent unsere Sinneserfahrung, wir sammeln nur 20 Prozent der Signale durch alle anderen Sinne zusammen. Das ist bei jedem Lebewesen anders, andere Tiere haben andere prozentuale Stärken.
Alles, was wir uns vorstellen können, dass es im Außen existiert, existiert eigentlich nur in unserem Innern. Daher glauben wir an eine objektiv vorhandene Realität da draußen. Die Welt, in der wir als Körper herumlaufen, muss objektiv gesehen auch so sein, wie wir sie uns vorstellen. Dabei können wir uns natürlich irren. Biologische Forschungen legen die Vermutung nahe, dass schon eine andere Tierart die gleiche Umgebung völlig anders wahrnimmt. Ein Hund stellt sich vielleicht seine Umgebung als ein Meer aus Gerüchen vor, denn sein stärkster Sinn ist der Geruch. Seine innere Karte ist dann möglicherweise geprägt von Wellen und Strömungen der verschiedensten, stärkeren und schwächeren Geruchspartikel, deren Bahnen er schnüffelnd folgen kann. Vielleicht sieht er jeden unterscheidbaren Geruch dann als eine andere Farbe, und die Signale erzeugen transparente Schichten oder Farbmischungen in einer bunten Karte, wobei seine Sehnerven dann nur ein unterlegtes, schwarz-weißes Gelände-Raster liefern. Oder nimm eine Schlange: Sie kann Infrarot sehen und damit, ob an einer Stelle gerade ein Säugetier gelegen hat.
Lassen wir uns trotzdem realistisch bleiben: Ein Realist ist ein Mensch, der seine Weltsicht auf äußerlich erfahrbare, bewiesene Fakten aufbaut. Er glaubt seinen Sinnen und darüber hinaus allem, was die Wissenschaften ergänzend für ihn herausgefunden haben. Er kombiniert in seinem Kopf seine durch die Sinne erzeugte Vorstellung mit vielen weiteren Vorstellungswelten, die ihm als Modelle von Wissenschaftlern angeboten werden. So stellen wir uns mittlerweile zum Beispiel gewohnheitsmäßig wunderschöne Staubwolken im Kosmos vor, weil wir uns an die roten und blauen Einfärbungen der Astronomen gewöhnt haben, die mit blau eigentlich nur zum Ausdruck bringen, wieviel Wasserstoff dort vorhanden ist. Würden wir dorthin reisen, wir wären ernüchtert: Wir könnten stattdessen diese Sternenkonstellation nur in Schwarz-weiß sehen. Ich möchte also wetten, dass der Himmel in uns allen längst sehr viel bunter ist, als es mit den Augen beweisbar wäre.
Wenn man es genau nimmt, besteht die natürliche Umgebung um uns herum daher eigentlich aus einer Signal-Matrix, einem Sammelsurium unterschiedlichster Informationen, die von verschiedenen Sinnen aufgenommen werden können. Jede Tierart hat über ihre Sinne Zugang zu ganz anderen Signalbereichen innerhalb dieser Matrix und dekodiert sie auch anders, dabei werden völlig unterschiedliche innere Realitätsvorstellungen erzeugt. Selbst innerhalb einer biologischen Art gibt es Unterschiede. Einige Menschen können keine Farben sehen oder werden schwerhörig. Ihre Sinne liefern dann nur noch Signale aus viel engeren Bereichen. Meine Großmutter konnte mich zuletzt nur noch sehen, wenn ich mich bewegte. Ich nenne diese Realität unserer als Mensch über die Sinne zu entschlüsselnde Umgebung unsere natürliche Matrix, weil jeder andere Mensch diese Signale nachvollziehen kann, indem er sie direkt aus der natürlichen Umgebung gewinnt. Selbst wenn er nie mit unserer Zivilisation in Kontakt kam.
Seit der Aufklärung hat die Menschheit ihre Wissenschaftler mit dem Auftrag ausgesandt, ihre Sinne zu erweitern und mehr über diese natürliche Matrix herauszufinden, die Erde, das Leben und den Kosmos. Es wurden Mikroskope und Teleskope erfunden und die Welt umsegelt. Man drang dabei immer tiefer ein in diese natürliche Matrix. Das wissenschaftliche Denken wurde schließlich zur Basis der menschlichen Vorstellungswelt und verdrängte dabei die künstlichen religiösen Weltbilder, die jahrtausendelang die Sinneserfahrung der Menschen ergänzten und vor allem auch völlig anders interpretierten. Da konnte dann ein Blitz nur als eine Bestrafung von Gott gedeutet werden. In der Moderne wurden der Verstand und die Technik zu bevorzugten Beweislieferanten. In einer standardisierten, wissenschaftlich objektivierten Vorgehensweise werden dann Daten und Fakten aus vielen Versuchsreihen gewonnen, die verschiedene Wissenschaftler danach analysieren und eventuell trotzdem unterschiedlich interpretieren.
Die Wissenschaften sind entstanden, um unsere Vorstellung von Realität zu erforschen und zu erweitern und auf vielen Gebieten tun sie das auch, ohne sich von der herrschenden Gesellschaftsstruktur zu einem Dogma missbrauchen zu lassen, wo sie doch selbst am besten wissen, dass das wissenschaftliche Forschen immer mit einer Theorie beginnt. Erst muss eine Theorie, also eine Vermutung, da sein, dann kann man in einem streng wissenschaftlichen Format dazu Versuche erfinden, die eine solche Theorie entweder bestätigen oder widerlegen. Eine andere Theorie wird sofort andere Versuchsreihen erforderlich machen und möglicherweise einen ganz neuen Forschungszweig begründen, der vorher nicht da war. Damit ist erst einmal jeder Theoretiker – egal zu welchem Thema – nur einer, der eine Vermutung formuliert, für die er noch nach Beweisen sucht, wobei er auch andere öffentlich dazu ermuntert, mit ihm daran zu forschen. Jeder Forschungszweig hat dabei andere Möglichkeiten der Beweisführung entwickelt. Ein Historiker zum Beispiel kann direkt keine Versuche mehr anstellen, die Geschichte ist ja längst passiert, wenn er sie erforscht. Er sucht also Beweise in unterschiedlichsten Überlieferungen oder Zeugendarstellungen und wertet alle verfügbaren Quellen aus. Darüber hinaus liefern ihm Verträge und Bilder und neuerdings auch Filmmaterial Hinweise auf die wirkliche, historische Realität von damals.
Wenn wir uns die objektiv da draußen außerhalb unseres Körpers vorhandene Realität als eine geschlossene Schachtel vorstellen, von der wir nach wie vor eigentlich keine Ahnung haben, dann bohrten unsere einzelnen Wissenschaftsrichtungen jeweils ein eigenes Loch in diese Schachtel (Blackbox-Theorie), um uns zu erzählen, was sie über die Realität in der Box (der natürlichen Matrix) herausgefunden haben. Der Chemiker schaute hinein und entdeckte chemische Elemente und ihre Reaktionen miteinander. Der Physiker schaute hinein und entdeckte Großes: das Universum, Planeten und Sonnen, aber auch das ganz Kleine: Atome, Quarks und viele Gesetzmäßigkeiten. Der Soziologe schaute hinein und sah Beziehungen und Dominanzen. Der Theologe schaute hinein und sah überall den Schöpfer am Werk und staunte. Der Biologe schaute hinein und sah durch sein Loch eine Vielfalt an Arten und studierte sie. Der Mathematiker spielte eigentlich nur mit Logik, mit Geometrien und Zahlen und entdeckte dabei in der Box Zahlenräume und Gesetzmäßigkeiten, die sich zu seiner eigenen größten Verwunderung später als nützlich erwiesen, um einen Computer zu erfinden oder andere technischen Geräte. Die Sinneserfahrung der Forscher erweiterte sich gewaltig, von der Radioantenne bis hin zum Virustest.
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