Durch das Objektiv betrachtete er den Wirt, der gelangweilt die schäbigen Tische in seinem kleinen Restaurant abwischte. Trotz der Dunkelheit war er klar und scharf zu sehen, wie durch ein gutes Fernglas. Er bräuchte nur den Finger zu krümmen und der Mann würde von einer Kugel getroffen zusammenbrechen, da vorne, ein paar hundert Meter entfernt. Er besaß eine perfekte Tötungsmaschine, ein Höhepunkt Jahrtausende währender Versuche der Menschen, sich auf immer effektivere Art umzubringen. Tod auf Knopfdruck.
»Und wenn ich nicht schießen kann ?«
»Glaubst du, Dad hätte gezögert?«
Nein, gewiss nicht. Elijahs Vater war Polizist gewesen. Aber hätte er es überhaupt so weit kommen lassen wie Elijah, der jetzt im vierten Stock eines Hotels saß und auf sein Opfer lauerte?
»Du lauerst nicht. Das ist kein Opfer. Du rettest die Welt vor einem falschen Messias. Vor dem Satan.«
Natürlich war es Sünde, wenn sich jemand als Messias ausgab. Aber hatten solche Verrückten nicht schon immer existiert? Musste man sie aus dem Weg schaffen?
»Sünde?« Madison winkte ab. »Darum geht es nicht. Das ist kein harmloser Spinner. Der und seine Freunde wollen die Welt verändern. Wenn du es nicht verhinderst, wird es passieren. Möchtest du, dass bald Kirchen brennen? Möchtest du, dass Christen bald wieder verfolgt werden? Möchtest du, dass Unschuldige gekreuzigt werden?«
»Nein … natürlich nicht.«
»Sollen noch mehr Menschen sterben? Denk an Matthew … Du hast schon einmal Hunderte gerettet. Jetzt musst du Millionen retten. Du hast es in der Hand. Du bist die Waffe Gottes. Das ist dein Schicksal, vor dem du nicht weglaufen kannst. Jona hat es versucht, Hiob haderte mit seinem Schicksal, aber man kann sich Gottes Willen nicht entziehen.«
Minutenlang sagte keiner etwas. Elijah setzte sich aufrecht hin und drehte seinen Kopf langsam in alle Richtungen, um die Verspannungen zu lösen. Bei jeder Bewegung knackte es.
»Es ist gleich so weit«, flüsterte Madison, obwohl es keinen Grund gab, zu flüstern. Und für sie erst recht nicht.
Elijah nickte. Er entsicherte die Waffe und blickte ruhig durch das Zielfernrohr. Nicht zögern und nicht die Luft anhalten, hatte der Corporal gesagt. Ruhig einatmen, dann ausatmen und abdrücken.
Bewegung kam ins Bild. Ein paar bange Sekunden fragte er sich, ob er sein Ziel auch erkennen würde. Was, wenn eine ganze Gruppe kam? Und was, wenn er keine freie Sicht zum Zielobjekt hätte?
Doch es war, wie Madison es vorausgesagt hatte. Er wusste sofort, wer es war und es war ein leichtes, die Person ins Visier zu nehmen. Ausatmen und abdrücken.
Er atmete ein, dann aus. Ganz ruhig.
Ihr Gesicht wurde weltbekannt. Eine Ikone – zu vergleichen eigentlich nur mit berühmten Bildern, wie dem von Che Guevara oder dem Foto, auf dem Einstein die Zunge herausstreckt. Wirklich jammerschade, dass sie nichts mehr davon hatte, weil sie natürlich tot war. Naja, ich bin immerhin ziemlich sicher, dass auch Albert Einstein und Che Guevara keine Tantiemen für den Verkauf ihrer Fotos bekommen haben.
Im Gegensatz zu ihrem Gesicht war ihr Name übrigens praktisch unbekannt, wahrscheinlich, weil er zu exotisch war. Neben ihrem richtigen Namen, Satsuki (mit einem fast stummen »u«), waren mindestens ein halbes Dutzend falscher im Umlauf, am populärsten war aus irgendwelchen Gründen »Karen«. Nicht einmal im Wikipedia-Artikel war der korrekte Name genannt.
Das Foto war etwas unscharf, wahrscheinlich, weil es im Schatten aufgenommen worden war. Vielleicht, hatte ich mir mal überlegt, vielleicht müssen Fotos, die zur Legende werden sollen, technische Mängel aufweisen, damit sie authentisch aussehen. Nicht, dass an der Authentizität ein Zweifel bestanden hätte. Das abgebildete Mädchen hatte halblanges, dunkles Haar und die Augen lugten unter einem dichten Pony hervor. Hübsch, ja, aber nichts Besonderes eigentlich. In jeder Stadt der Welt gibt es haufenweise 16-jährige Mädchen wie sie. Vermutlich war es der Blick, der das Foto so berühmt gemacht hatte, dieser unendlich traurige, hoffnungslose Blick.
Der und natürlich die Tatsache, dass sie sich, wenige Sekunden, nachdem das Foto von einem namenlosen Passanten aufgenommen worden war, am Bahnsteig zwei des Bahnhofs Fujishiro vor den durchfahrenden Limited Express der Joban Line geworfen hatte; unmittelbar gefolgt von vier anderen Mädchen und zwei Jungen.
Wenn sich eine Person umbringt, ist das tragisch, aber nur eine kurze Meldung in der Lokalzeitung. Wenn sieben junge Menschen aus der Highschool gemeinsam Selbstmord begehen, dann ist das eine Top-Nachricht. Journalisten und Kamerateams aus der ganzen Welt reisten in den verschlafenen Tokyoter Vorort und berichteten, analysierten und spekulierten. Sicher wurde jeder Einwohner dieses Nests ein Dutzend Mal interviewt und jeder Jugendpsychologe und echte oder selbsternannte »Asien-Spezialist« konnte in aller Breite seine Vermutungen und Theorien zum Besten geben.
Das ging knapp zwei Wochen so. Mit Sondersendungen und langen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften; man kennt das ja von Katastrophen aller Art, von Terroranschlag bis Überschwemmung.
Danach wusste auch Otto Normalfernsehzuschauer, dass japanische Kinder in der Schule unter enormem Leistungsdruck standen. Dazu waren ihre Eltern mit der Erziehung oft überfordert und die Zukunftsperspektiven der jungen Leute schienen angesichts einer seit Jahren stagnierenden Wirtschaft auch nicht so rosig. War das der Grund für den Selbstmord? Vielleicht. Dazu kam natürlich das Alter, klar. Wie alt war Goethes Werther, als er seinem Leben ein Ende setzte? Älter? Na ja, die jungen Leute sind heute eben schon reifer und machen so was früher.
Die Programmmanager kramten tief in der Filmkiste und hievten alte Dokumentationen über Kamikaze im zweiten Weltkrieg ins Programm, über Harakiri, Seppukku und wie das alles hieß. So wurde auch dem letzten klar: Japan, das ist eine andere Welt, das begreifen wir ja doch nicht. Etwas mit anderer Kultur und Mentalität, von uns Europäern nicht zu verstehen.
Die Leute langweilte es da schon lange, es passierte nichts mehr und neue Erkenntnisse gab es auch nicht. Die Berichterstattung einigte sich also darauf, dass das Ganze eine typisch japanische Sache war. Für uns im fernen Europa war das ja auch ganz bequem, denn damit war es nicht mehr unsere Sorge; genau wie Fukushima, Erdbeben oder Tsunamis. Naja, hatten sie eben ein Problem mehr in Fernost. So sorry, aber wir haben unsere eigenen Schwierigkeiten.
Die Kamerateams zogen ab und die kleine Vorstadt verfiel wieder in einen Dornröschenschlaf.
Ziemlich genau eine Woche später sprangen in Barcelona sechs junge Rucksacktouristen von einem Turm der Sagrada Familia. Das verwackelte, aber trotzdem schauderhafte Video war eines der meistgesehenen auf Youtube, bis es endlich gelöscht wurde (und gleich darauf auf dieser und ähnlichen Webseiten hundertfach wieder hochgeladen wurde, teilweise mit äußerst geschmackloser musikalischer oder akustischer Untermalung). Natürlich wurde das Bauwerk sofort gesperrt, aber die Selbstmorde beendete das nicht.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Wenige Tage später schnitten sich in Freiburg fünf junge Menschen zwischen 17 und 20 Jahren gemeinsam in einem Auto die Pulsadern auf. Zum Glück gab es davon keine Bilder in den Nachrichten, es muss eine wahnsinnige Sauerei gewesen sein.
Acht Tote in Ohio, einer nach dem anderen hatte sich die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt. Das gleiche, blutige Ding, das muss man sich mal vorstellen.
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