„Ja, scheint wieder alles okay zu sein… Was machst du hier? Willst du halbfaule Bananen? Handverlesen!“ Caro kicherte. Sandra hatte die schärfste Zunge nördlich des Äquators. Das ein oder andere Mal hatte sie sich mit ihren frechen Sprüchen schon Ärger eingehandelt. „Ich will tatsächlich Bananen, du Irre“, grinste Caroline, „aber die frischen. Und, Bella will wissen, ob wir am Freitag mitkommen zu so einer Modelparty. Du weißt schon, dünne Frauen, falsche Wimpern, Champagner und heiße Jungs“. Sie verdrehte gespielt genervt die Augen. Annabell war ihre gemeinsame Freundin und war als Model immer wieder zu „angesagten“ Partys eingeladen. Manchmal gingen Sandra und Caroline mit, aber beide mochten es eigentlich nicht besonders. Caro war zu schüchtern und fühlte sich zu rundlich unter all den Bohnenstangen, und Sandra eckte an mit ihrer direkten Art. Zudem brauchte Sandra zur Zeit nichts weniger als einen Mann und sei er auch noch so ein heißes Model. „Weißt du, Caro, es ist erst Montag“, antwortete Sandra, „Freitag ist noch Lichtjahre entfernt. Wahrscheinlich werde ich den Freitag gar nicht erleben. Ich werde als erster dokumentierter Fall zwischen faulem und halbfaulem Obst aufgrund von chronischer Genervtheit und akuter Müdigkeit verenden. Schreib deine Doktorarbeit darüber.“ Caro lachte. Sie war der klügste Kopf unter den drei Freundinnen, studierte Medizin und hatte gerade ganz andere Sorgen als eine etwaige Doktorarbeit, sagte aber nichts weiter. „Lass uns die Tage nochmal texten“, schlug sie ihrer Freundin vor. Zu dritt schrieben sich Sandra, Caroline und Annabell, um im Alltag in Kontakt zu bleiben, regelmäßig kurze Textnachrichten. Zu Schulzeiten war es so einfach gewesen… sie hatten sich tagtäglich gesehen und überdies am Nachmittag alle Zeit der Welt gehabt. Jetzt nutzten sie die Gruppenfunktion ihrer Handys und schrieben sich beinahe täglich hin und her, um weiterhin Anteil am Leben der beiden anderen zu haben. So oft wie früher sahen sie sich nicht mehr, obwohl sie noch in der gleichen Stadt lebten – Sandra war beschäftigt mit ihrem Supermarktjob und vor allem mit Sammy, Caro studierte und kümmerte sich um ihre Mutter, und Annabell, das Model, jettete in der Welt herum, immer auf der Suche nach einem lukrativen Auftrag, gestresst vom Jet-Set-Leben. „Und halt die Ohren steif!“, fügte Caroline hinzu. „Mach ich, versprochen“, gab Sandra zurück, „was bleibt mir anderes übrig? War schön, dich zu sehen!“ Sandra und Caro umarmten sich kurz. Caroline ging mit ihrem Beutel der makellosesten Bananen zur Kasse, und Sandra wandte sich schicksalsergeben den Gurken zu.
CARO: Noch lebendig? Oder zwischen halbfaulem Obst verendet?
ANNABELL: Verendet? Wer? Wenn ich noch einen einzigen Scheißchampagner trinken muss, verende ich auch… grrrr!
SANDRA: Hab überlebt. Knapp. Hab euch lieb.
Auf dem Revier war mal wieder nichts los. Nicht, dass es ihn wundern würde. Es war Montag, und er war schließlich nicht mehr in New York. Die Kleinstadt Lanbridge, in der er seit ein paar Wochen lebte, hatte für einen Polizisten, zudem einem aus NY, nicht viel Spannendes zu bieten. Das Wochenende hatte zwar mit der Schlägerei einiger Trunkenbolde immerhin für eine kurze Abwechslung gesorgt, aber heute war Montag, und alle kurierten ihren Kater aus. Nichts zu tun für Jake. Er seufzte schicksalsergeben, während er einen Schluck fast schon kalten Kaffee trank. Angewidert verzog er das Gesicht. Zum mindestens fünften Mal an diesem Morgen überflog er an seinem schon etwas in die Jahre gekommenen Computer die Protokolle seiner Einsätze am Samstagabend. Er war immer noch der Neue hier – deshalb hatte er auch den schlechtesten Schreibtisch bekommen, alter PC, verschrammter Schreibtisch und quietschender Bürostuhl - und wollte alles, nur nicht unangenehm auffallen. Er wollte schließlich irgendwann mal einen besseren Schreibtisch bekommen. Schlägerei… Platzwunde… drei Mann über Nacht in die Ausnüchterungszelle… diesen Routinekram hatte er wohl jetzt drauf. Und dann war da noch Mrs Mitchell. Jake musste beim Gedanken an sie trotz seines kalten Kaffees grinsen. Seitdem er in Lanbridge lebte und arbeitete, hatte sie ihn am Sonntag bereits zum vierten Mal zu sich nach Hause beordert. Und „beordert“ traf es auf den Punkt. Mrs Mitchell war auf dem Revier berühmt-berüchtigt. Die alte Dame mit den silbernen Locken, die stets so gekleidet war, als wolle sie in Kürze in die Oper gehen, meldete teils mehrmals pro Woche fragliche „Einbrüche“ in ihre Wohnung. Bei Jakes erstem Einsatz bei ihr hatte er sich richtig viel Zeit genommen, sie ausführlich befragt und sämtliche Sicherheitssysteme ihrer Wohnung – Fensterschlösser, stabile Extra-Riegel an allen Türen und sogar eine hochmoderne Videoüberwachungsanlage– akribisch unter die Lupe genommen. Zu akribisch, wie sich herausstellen sollte. Bei ihren folgenden „Notrufen“ verlangte sie nun ausschließlich nach Jake, oder wie sie es formulierte, „dem hübschen Jungen, der sich so professionell verhält“. Mittlerweile hatte Jake mitbekommen, dass Mrs Mitchell einfach nur Aufmerksamkeit brauchte. Seine Kollegen auf dem Revier hatten ihre Bevorzugung Jakes grinsend zur Kenntnis genommen – nun mussten sie nicht mehr zu der skurrilen alten Dame. Der Neue hatte ihnen den Schrottschreibtisch und Mrs Mitchell abgenommen. Jake war es nur recht. Er überschlug sich nicht vor Arbeit, und Mrs Mitchell war nett – und einsam. Schnell schrieb er seinen Bericht über den „versuchten Einbruch“ bei ihr zu Ende und legte ihn ins Fach seines Vorgesetzten. Fertig.
„Hey, Jake“, begrüßte ihn da Martin, sein Kollege, der gerade aus dem Streifendienst zurück aufs Revier kam. Martin war in seinem Alter und die beiden waren sich, als Jake nach Lanbridge gekommen war ( versetzt , meldete sich sein Unterbewusstsein, straf versetzt) auf Anhieb sympathisch gewesen. „Bleibt es dabei, kommst du nachher zum Essen zu uns?“ Jake schluckte und atmete tief durch. Mit „uns“ meinte Martin sich, seine Frau und die zwei kleinen Kinder. Ein Abendessen im Kreise einer intakten Familie. Nicht gerade das, was er sich für heute Abend vorstellte. Gedanklich war er wieder, wie an seinem letzten freien Wochenende, in der Bar, trinken oder Frauen aufreißen. Das war doch eher nach seinem Geschmack – besonders letzteres. Dennoch sagte er zu. „Na klar, Martin, ich freu mich schon darauf, deine Familie kennen zu lernen!“ Das war zwar geschwindelt, aber diese Lüge fiel Jake leicht. Er mochte Martin und es war sicherlich besser für ihn, einen ruhigen Abend zu verbringen anstatt schon wieder zu wenig Schlaf zu bekommen, beschloss er.
Der „ruhige“ Abend entpuppte sich als Wunschvorstellung. Seit er um acht Uhr abends mit einem frischen Hemd bekleidet, Blumen in der einen und einer Flasche Wein in der anderen Hand an die Haustür seines Kollegen geklingelt hatte, war es so ziemlich vorbei gewesen mit der Ruhe. Martins Frau Jasmine – eine hübsche Dunkelhaarige in Jeans und Bluse - hatte ihm geöffnet, ihn freundlich begrüßt und mit hinein in die Hölle genommen. Gut – Hölle war vielleicht ein wenig übertrieben, aber das Geschrei der beiden kleinen Kinder war doch ihm verdächtig auf die Nerven gegangen. Zwei Stunden später fühlte er sich wie durch die Mangel gedreht. Jasmine war echt nett gewesen und hatte sich Mühe gegeben, einen tollen Braten zu machen, der sicher sehr lecker gewesen wäre, wäre er nicht verbrannt gewesen, da die Kinder sich gegenseitig mit Zahncreme beschmierten, als der Braten aus dem Ofen gemusst hätte. Jim und Lilli, die kleinen Teufelchen, schienen sich im Minuten- nein Sekunden takt neuen Unsinn auszudenken, und entweder Jasmine oder Martin sprinteten hinterher, um Vandalismus und Verkrüppelungen zu verhindern. So war der Braten verbrannt, die Kartoffeln verkocht und der Wein zu warm gewesen. Jake saß vor dem Essen und bemühte sich um Konversation. „Lecker!“, verkündete er, die Wahrheit außer Acht lassend. Jasmine lächelte dankbar, aber erschöpft. Ihr war anzumerken, wie viel Stress der heutige Tag für sie bedeutet hatte. Da Jake sie noch nicht kannte, wusste er nicht, ob ihre dunklen Augenringe nur heute oder jeden Tag so tief waren – aber von Entspannung zeugten sie in keinem Fall. Auch Martin hatte gestresst gewirkt. Statt sich mit Jake zu unterhalten, sich abseits der Arbeit auf dem Revier etwas näher kennenzulernen, war er gemeinsam mit seiner Frau den Kindern nachgelaufen oder hatte sich in der Küche zu schaffen gemacht, um ihr zu helfen. Jake ertappte sich bei dem Wunsch, sie hätten einfach eine Pizza bestellt. „Heute war ein bisschen viel los“, erwiderte Jasmine entschuldigend – die Untertreibung des Jahres. „Jim und Lilli sind gerade ein wenig… munter.“ Jasmine lächelte Martin an, und ihre müden Augen begannen zu leuchten – sogar Jake konnte ihre ganze Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern sehen. Sie drückte seinen Arm, und während sie aufstand, um abzuräumen, hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Hast du eine Frau? Kinder?“, fragte sie Jake. „Nein“, antwortete er. Nein . So war es, und so sollte es bleiben. Ihn hatte der heutige Abend an den Rand des Wahnsinns gebracht, doch Martin und Jasmine, die dies tagtäglich erlebten, lächelten nur. Jake verspürte einen Stich der Eifersucht – aber nur einen kleinen. Seit einem Jahr nun war er der einsame Wolf, und es gefiel ihm. Er brauchte niemanden. Er konnte niemanden enttäuschen, und er konnte nicht enttäuscht werden. Und er musste keine Angst um jemanden haben, den er liebte. Nie wieder.
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