So war er froh, dass er mit Harpagos einen Verwalter gefunden hatte, der aus seiner Sicht den Laden zusammenhalten konnte. Trotz seiner jungen Jahre war Harpagos sehr versiert im Umgang mit Geld und den Verwaltungsstrukturen. Er konnte Menschen begeistern und überzeugen. Seine natürliche Autorität und seine hohe Intelligenz verhalfen ihm schon jetzt zu dieser verantwortungsvollen Position am Hof des Königs. Astyages vertraute ihm.
„Ahura Mazda möge dich immer beschützen, mein König.“ Harpagos und seine Begleiter knieten vor dem König nieder. „Möge sein Feuer nie erlöschen und dir auf alle Zeiten Glück, Frieden und vollkommene Reinheit schenken.“ Astyages senkte fast unmerklich sein Haupt und bedeutete den Gästen, sich zu erheben.
„Nehmt Platz und berichtet.“ Sie setzten sich auf weiche Sitzkissen, die auf dem mit kunstvollen Mosaiken verzierten Fußboden ausgelegt waren, während Astyages auf seinem Thron sitzen blieb.
Harpagos begann seinen Bericht über die finanzielle Situation des Landes vorzutragen. Er berichtete vom Stand der Steuereinnahmen, der Grundsteuer, Gewerbesteuer, dem Zehnten, den Zöllen, den Tributen aus Edelmetallen, der Einkommensteuer, der Vermögenssteuer. Die Rückläufigkeit der Einnahmen vor allem beim Zehnten erklärte er mit Überschwemmungen, die in diesem Frühjahr große Teile der Ernte der Bauern vernichtet hätten. Ausführlich und detailliert waren seine Ausführungen, man spürte die Gewissenhaftigkeit, mit der er sich der Aufgabe annahm.
Astyages hörte anfangs aufmerksam zu, jedoch bei den Überschwemmungen angekommen schweiften seine Gedanken ab. Wieder dachte er an den Traum der vergangenen Nacht. Sollte es da womöglich einen Zusammenhang geben? Doch was hatte Mandane damit zu tun?
„Mein König…“, hörte er aus der Ferne rufen. „Mein König, was meinst du dazu?“ Astyages schreckte auf und blickte in fragenden Augen. „Mein König, sollen wir noch mehr Steuereintreiber ins Land hinaus schicken? Was meinst du?“ - „Äh, ja … oder – nein – oder doch, noch mehr Steuereintreiber, aber auch Berater, die den Bauern beim Hochwasserschutz helfen können. Sie sollen Vorschläge machen, wie sich die Bauern in Zukunft vor Überschwemmungen schützen können. Das scheint mir ganz wichtig! Sie sollen nicht noch einmal ihre Ernte verlieren – und wir die Einnahmen. Hörst du, das ist wichtig!! In der nächsten Woche möchte ich einen Bericht über den Fortschritt! Und nun geht!“
Harpagos und seine Begleiter waren überrascht von der plötzlichen Heftigkeit und Aufgeregtheit des Königs. Eigentlich hatte man solche Maßnahmen bereits angedacht und war dabei, diese umzusetzen. Was hat ihn plötzlich so energisch, ja fast panisch werden lassen? Sie verneigten sich mehrfach und verließen rückwärts gehend den Audienzsaal.
„So, mein Lieber. Augenblicklich erzählst du mir jetzt, was dich bedrückt. Das ist ja nicht zum Aushalten! So schweigsam und abwesend wie beim Mittagsmahl bist du doch sonst nicht.“ Aryenis nahm ihren Mann am Arm und führte ihn zum Garten des Schlosses. „Komm, wir gehen ein Stück.“
Der Garten des Palastes war prächtig angelegt. Palmen, Zypressen und andere Nadelbäume sowie zahlreiche exotische Bäume und Sträucher waren so durchdacht gepflanzt, dass sie zu einer unvergleichlichen Einheit verschmolzen. Zahlreiche Wasserläufe, die ebenso geschickt angelegt waren, speisten sich aus einer gemeinsamen Quelle. Dieses Qanat-System ist überliefert von den Vorvätern und ermöglicht seit Jahrhunderten das Leben in diesen eigentlich trockenen Gebieten. Kunstvolle Statuen, schattige Wege und zwitschernde Vögel schaffen eine einzigartige Atmosphäre der Ruhe und Entspannung. „Paradaidha“ nannten sie diesen Garten, eine Vorfreude auf das, was sie nach dem Tod im Paradies erwartet. Das Herz und die Sinne öffnend ist er genau die richtige Umgebung für ein Gespräch zwischen den beiden.
„Heute Nacht“, so begann Astyages, „hatte ich einen seltsamen Traum. Ich weiß nicht, was er zu bedeuten hat, ob er überhaupt etwas zu bedeuten hat. Ich sah Mandane beim Spielen zu. Sie vergnügte sich an einem kleinen Wasserlauf, ließ Blätter als Schiffchen schwimmen, beobachtete die Tierchen am Wasser, setzte Steine als Hindernisse für das Wasser hinein, sie war so selbstvergessen und glücklich. Da kam plötzlich ein anderer Junge dazu, sie schien ihn zu kennen, denn er trat zu ihr und sie spielten zusammen weiter am Bach. Ich weiß nicht, wer er war oder wer er sein könnte, er hatte in meinem Traum kein Gesicht. Sie schienen sich jedenfalls gut zu verstehen. Da plötzlich begann Mandane aufzuschreien, sie schien plötzlich starke Schmerzen zu haben. Ich hörte es nicht, erkannte es nur an ihrem Gesichtsausdruck. Diese lautlosen Schreie, es fühlte sich so unwirklich an. Sie hielt sich den Bauch, dort schienen die Schmerzen ihren Ursprung zu haben. Auf einmal sah ich, wie aus ihrem Bauch Wasser drang. Zuerst nur ein kleines Rinnsal. Der Junge begann zu lachen. Doch das Rinnsal wurde größer, es lief immer mehr Wasser aus ihrem Bauch. Bald war der Wasserlauf so groß wie der Bach, an dem die beiden spielten. Der Junge begann immer lauter zu lachen. Mandane schrie, das Wasser schoss nun förmlich aus ihr heraus. Wie eine Sturzflut bahnte es sich langsam den Weg durch das Gelände. Sie nahm zuerst Sand und Erde mit, riss dann immer größere Steine aus dem Boden. Die Flut schwoll immer weiter an, das Wasser bedeckte nach und nach die Landschaft ringsum, stieg immer weiter an. Der Junge lachte noch immer, er plantschte vergnügt in den Fluten. Der Wasserspiegel stieg weiter und weiter. Bald bedeckte die Flut das ganze Land, so weit das Auge reichte. Der Junge jedoch trieb an der Oberfläche, er ertrank nicht. Auch Mandane schwamm oben, sie schrie nicht mehr. Sie blickte sich nun angstvoll um, nur hie und da ragten noch die Spitzen einiger Bäume aus dem Wasser. Dann schien sie gar froh und erleichtert, als sie den Jungen in ihrer Nähe sah. Er schwamm auf sie zu, dann erwachte ich.“
Aryenis war eine kluge Frau. Sie stammte aus hohem Hause. Ihr Vater war Alyattes, der König von Lydien, ihr Bruder war Krösus. Sie kannte sich aus mit den Spielen der Macht. Sie wusste, was es bedeutete, ein Reich zusammenzuhalten, zu regieren, gegen Feinde von innen und außen zu verteidigen, gleichzeitig die Bevölkerung bei Laune zu halten sowie Macht und Einfluss zu vergrößern. Kluge Heiratspolitik war seit jeher eine wichtige Säule dabei. Das wusste sie ja aus eigener Erfahrung. Es war damals ein kluger Schachzug ihres Vaters, sie mit dem König der Meder zu verheiraten. Er vergrößerte so seinen Einfluss auf die Nachbarn ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Dass dies für die Tochter den Verlust der Heimat bedeutete und sie von Sardes, der Hauptstadt der Lydier, nach Ekbatana, der Hauptstadt der Meder, umziehen musste war dabei nicht von Bedeutung. Das Wohl des Landes stand immer über dem Wohl des Einzelnen. Im Gegenteil. Aryenis empfand diesen Umstand nie als Verlust, sondern immer als Gewinn. Nicht nur für das Land, nein, auch für sie ganz persönlich. Sie war schon als Kind sehr wissbegierig und aufgeweckt. Es genügte ihr nicht, immer nur zuhause zu sein. Sie wollte raus, die Welt außerhalb des Palastes erkunden.
So kam es ihrem Wesen sehr entgegen, dass ihr Vater die Hochzeit mit Astyages einfädelte. Die Meder bedrohten damals Lydien und es bestand durchaus die Gefahr, dass Lydien erobert worden wäre. Somit brachte die Hochzeit den Frieden. Als glücklicher und durchaus nicht selbstverständlicher Umstand kam hinzu, dass sie sich mit ihm gut verstand. Mehr noch, sie verliebten sich ineinander. So ergänzten sie sich aufs Prächtigste, sie baute ihn auf, wenn es ihm schlecht ging, hielt ihm den Rücken frei. Und er hatte in ihr eine Vertraute, auf die er sich immer verlassen konnte. Als König kann es gefährlich werden, wenn man den falschen Leuten vertraut. Aryenis hatte ein feines Gespür für Menschen. Sie erkannte sofort, wenn Gefahr in Verzug war oder jemand Unlauteres im Schilde führte.
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