Begierig saugte Ondine die Erzählungen der Älteren auf, lauschte ihren aufregenden Berichten von glitzernden Sternen am Himmelszelt, von großen Schiffen und von Menschen, die lachend am Strand entlangliefen. Denn sie selbst musste noch ein ganzes Jahr warten, bis auch sie endlich alt genug sein würde, das Abenteuer zu wagen und einen Blick auf die wundersame Welt zu erhaschen, die oberhalb des Meeresspiegels lag. Die sonderbare Welt, in der Liebende einander so zärtlich im Arm hielten und wie schwerelos tanzend dahinschwebten zum Klang köstlicher Musik.
Allein ihre gütige Großmutter erahnte die heimlichen Sehnsüchte ihrer jüngsten Enkeltochter, die so still und andächtig zuhörte, wann immer ihre älteste Schwester von einem ihrer seltenen nächtlichen Ausflüge heimkehrte. Doch die Meeresprinzessinnen waren gut erzogen und das Schicksal ihrer unglückseligen Mutter stand ihnen mahnend vor Augen. So führten ihre Streifzüge die Älteste nie in die Nähe der Menschen und der Küste und die mittlere Tochter des Meerkönigs hatte sich noch kein einziges Mal nach ganz oben gewagt.
Mit Verständnis und Sorge betrachtete die gute Großmutter Ondines wissensdurstige Ungeduld, die ihr aus ihrer eigenen Jugend und von ihrer beklagenswerten Tochter auf schmerzliche Weise wohlbekannt war.
»Die Welt dort oben mag verführerisch sein mit ihrem strahlenden Taglicht und ihren mannigfaltigen Wohlgerüchen. Es ist wahr, dass die Fische dort fliegen und lustige Lieder singen und vermutlich ist es auch wahr, dass die Menschen nicht von Natur aus und grundlegend schlecht sind. Doch sie sind gänzlich anders als wir, auch wenn sie uns vom Kopf bis zur Hüfte gleichen und im Stande sind, gar schöne Dinge hervorzubringen. Aber lass dich nicht von ihrer Kunstfertigkeit täuschen, mein liebes Kind. Die Menschen sind grobe Gesellen und kannibalische Räuber ohne Sinn für die Schönheit unserer Welt.«
»Hast du sie gesehen, die Menschen? Bist du ihnen begegnet, Großmutter?«
Die Großmutter seufzte. »Als ich jung war, war ich von der gleichen Neugier beseelt wie du, mein liebes Kind. Von einem Felsen im Meer aus sah ich prachtvolle Schiffe vorbeiziehen mit kostbaren Gütern und zahlreichen Menschen darauf und ich wagte mich sogar in die Nähe der Stadt. Ich sah das weiße Schloss auf der Felsenklippe und spielende Kinder am Strand.«
»Das möchte ich auch sehen«, entgegnete die junge Meerprinzessin voller Sehnsucht.
»Aber du weißt, was deiner lieben Mutter widerfahren ist, mein liebes Kind. Die Welt dort oben mag verlockend sein, aber sie ist voller Gefahren für die Bewohner des Ozeans und am gefährlichsten sind die Menschen.«
So brachte Ondine noch ein weiteres Jahr in begieriger Erwartung zu und sah jeden Tag sehnsuchtsvoll zur Sonne empor, deren gleißende Strahlen immer nur gedämpft und gebrochen in die Tiefe des Ozeans vordrangen.
Und dann endlich war ihr großer Tag gekommen.
***
Der achtzehnte Geburtstag war ein ganz besonderer und höchst denkwürdiger Tag im mitunter Jahrhunderte währenden Leben eines jeden Meermenschen, denn er markierte den Eintritt in das Erwachsenenalter mit all seinen Rechten und Pflichten. Für eine Meerprinzessin bedeutete das, mit einem rauschenden Fest in die Gesellschaft eingeführt zu werden.
»Du wirst allen anwesenden Herren den Kopf verdrehen«, mutmaßte ihre älteste Schwester und flocht einen weiteren Strang schimmernder Perlen in Ondines goldenes Lockenhaar. Glänzender Perlenschmuck zierte auch den schlanken Hals, die zarten Arme und den herrlich türkisblauen Fischschwanz der jungen Meerprinzessin, deren strahlende Augen vom gleichen exotischen Farbton waren wie ihre wohlgeformte Flosse.
»Von heute an wirst du dich vor heiratswilligen Verehrern nicht mehr retten können, Schwesterchen.«
Die Schwester ahnte nicht, dass Ondines Ungeduld nicht von dem festlichen Bankett herrührte, das ihr zu Ehren veranstaltet wurde, sondern von der Aussicht, im Anschluss daran zum ersten Mal emporzusteigen und das zu atmen, was Luft hieß und das im Haar zu spüren, was man Wind nannte.
Wie von der Schwester prophezeit, war die jüngste Meerprinzessin an diesem Tag das schönste Wesen im Königreich und ein Raunen ging durch die Menge, als sie an der Hand ihres stolzen Vaters in den Ballsaal schwamm. Wie auf Ondines Gemälde war auch der Tanzsaal des Meerkönigs festlich geschmückt und erstrahlte in all seiner glanzvollen Pracht. Auch die geladenen Gäste hatten sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt und trugen ihr kostbarstes Geschmeide und herrliche Blumengebinde im Haar. Doch gab es keine Kerzen, die die goldschimmernden Wände hätten erleuchten und die edlen Juwelen hätten zum Strahlen bringen können, wie sie es verdienten. Nur der fahle Abglanz des Sonnenlichts weit über dem Meer erhellte den Saal.
Der erste Tanz gehörte dem Meerkönig und seiner Jüngsten und erneut war die Menge wie verzaubert von Ondines Liebreiz und ihrer unvergleichlichen Anmut. Keine Meerjungfrau war von zarterer Gestalt und von betörenderer Schönheit als die kleine Prinzessin mit dem goldenen Lockenhaar und der amazonitfarbenen Flosse. Sie tanzte die alten Tänze mit einer so natürlichen Grazie und sang die uralten Lieder mit einer so glockenklaren Stimme, wie man es nicht mehr erlebt hatte, seit die beklagenswerte Meerkönigin ihr viel zu junges Leben ausgehaucht hatte.
Doch noch bevor das prachtvolle Fest seinen Höhepunkt fand und noch ehe die Sonne im Meer versank, stahl sich das Geburtstagskind heimlich davon.
Gewichtslos und geschmeidig wie eine Luftblase stieg sie im Wasser empor, der glitzernden Spiegelfläche und der strahlenden Sonne entgegen.
***
Oh, welch ein köstliches Gefühl war es, als sie die Wasseroberfläche durchbrach! Das gleißende Abendlicht blendete beinahe ihre empfindsamen Augen, doch die Luft war ganz mild und die ruhige See spiegelglatt. Eine sanfte Brise wehte um ihre Nase, die zum ersten Mal atmete, wie es die Menschen taten, und führte köstliche Düfte mit sich, die vom Land herüber wehten. Wie eine Süchtige inhalierte Ondine die fremden Gerüche und die salzige Luft. Nie war sie aufmerksamer und nie waren ihre Sinne wacher gewesen, als in diesem Augenblick. Es war, als sehe, rieche, schmecke, höre sie zum allerersten Mal; so, als wäre ihre Wahrnehmung von einer dämpfenden Dunstglocke befreit.
Die Sonne glühte wie ein rotgoldener Ball und tauchte den Himmel und den Ozean in sattes Orange. Nie hatte Ondine eine herrlichere Farbe gesehen und ein ergreifenderes Schauspiel als diesen Sonnenuntergang über dem Meer.
Doch sie wollte noch mehr sehen, noch mehr erleben an ihrem ersten Abend in der oberen Welt und so machte sie sich auf in die Richtung, von der es in den Erzählungen der Älteren hieß, dass dort die Küste mit dem weißen Schloss läge.
Schon von Ferne waren die wie in Gold getauchten Umrisse der felsigen Küste und die prächtigen Lichter der Stadt auszumachen, die sich weit am Küstenrand entlang erstreckte. Alles war ganz so, wie man es ihr erzählt hatte, nur noch viel schöner und eindrucksvoller. Keine Worte vermochten zu beschreiben, welches Glück es für die kleine Meerjungfrau bedeutete, den Gesang der fliegenden Fische, das Rauschen der Brandung und das Säuseln des Windes mit eigenen Ohren zu hören.
Und dort drüben war auch das weiße Schloss mit dem hohen Turm und den schönen Zinnen, von dem so viele Geschichten handelten und von dem auch ihre geliebte Großmutter ihr erzählt hatte.
Es war noch prachtvoller, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Auf einem Felsvorsprung thronte es und überragte das Meer trutzig und von erhabener Pracht. Der weiße Kalkstein strahlte im warmen Abendlicht, als wäre er in pures Gold getaucht.
Ondine fand einen Felsen unweit des Piers, auf dessen Spitze eine steinerne Sphinx über das kleine Hafenbecken wachte. Und dann erblickte sie ihn .
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