Wir erkennen noch gar nicht, dass Tugend [nur?] innere Stärke ist und dass der Mensch oder eine Verbindung von Menschen, die zur schöpferischen Urkraft [die N sich fraglos zutraute und in Anspruch nahm!] hindurchdringen, nach dem Gesetz der Natur alle Städte, Nationen, Könige, die Reichen und die Dichter, die nicht im Werden begriffen sind, überwältigen und beherrschen müssen [dies hatte N seitlich mehrfach dick angestrichen!]. Dies ist denn die endliche Wahrheit, zu der wir eben so schnell durch diese wie durch jede andere Lehre gelangen, nämlich das Aufgehen aller Dinge in dem hoch gelobten Einen [in dem unter Aufhebung aller Widersprüchlichkeiten das All und Alles harmonisch zusammenklingt! Es lief an so vielen Stellen, in so vielen Wendungen immer wieder auf dasselbe hinaus!]. Die Tugend [der inneren Stärke, wie soeben definiert!] ist der Regierer, der Schöpfer, die Wirklichkeit. Alle wirklichen Dinge sind dasselbe nach dem Grade, in welchem sie die Tugend [der von N durchaus gefühlten Stärke] besitzen. EE.53
Die Tugend als nicht genauer bestimmte Größe irgendeiner „Stärke“ deren es viele gibt?! - Man darf darunter verstehen, was immer man will. Auch wieder das Eine , den Allzusammenklang, ein „Zustand“ der in den „Gemeinsamkeiten“ zwischen Emerson und N eine so herausragende Rolle spielt. Daraus stellte N sich Anfang 1882 folgende in jeder Hinsicht verkürzte und verkürzende, auf sich selbst zugeschnittene Notiz zusammen:
Tugend ist innere Stärke: ein Mensch [wie N selber, - das war sicher gemeint!], der zur schöpferischen Urkraft durchdringt, überwältigt nach dem Gesetz der Natur alle Städte Völker Könige, die Reichen und die Dichter. 9.671
Wieder war für N - und bei weitem nicht in gleichem Maße für „alle Anderen“ auch! - das Maß für diese Tugend nur in seinem „Selbst“ verankert. „Es“ und Er gelangten nicht über ihn selbst hinaus! N blieb bei einem Menschen. Einzahl ! In Gedanken bei sich und „Es“ bestand betont aus dem, was Er fühlte! Seine schöpferische Urkraft war gemeint! - mit deren Wahrheit er „die Anderen“ überwältigen mochte und sich sogar dazu gezwungen fühlte, das zu tun, wie er es ein Jahr nach seiner Notiz, 1883, an seine mütterliche Freundin Malwida von Meysenbug schreiben sollte. Da hieß es, wie er glaubte, es bei Emerson „gelernt“ oder zumindest doch einleuchtend und „schön“ gefunden beziehungsweise anempfohlen bekommen zu haben:
Man soll sein Ideal vom Menschen durchsetzen , man soll mit seinem Ideal seine Mitmenschen wie sich selbst zwingen und überwältigen: und also schöpferisch wirken! 15.7.83
Dabei wäre doch zuerst einmal in aller Grundsätzlichkeit zu fragen gewesen: Was ist eigentlich dieses „Gesetz der Natur“, das Emerson da und auch sonst oft und mit ihm, in nachplappernder Weise N, für ihre „Logik“ in Anspruch nahmen? Einfach so? Wozu? Gemeint ist es von beiden - letztlich in totalitärem Sinn! - dem sich auch Emerson häufig geneigt erwies: Immer zugunsten des Einen , Vereinheitlichenden, Problemlösenden und Er-lösenden, Widersprüche aufhebenden , aber auch „gleichschaltendem“ letztlichen Phantom von einem „Ideal“, das hier als „Wahrheit“ angeführt wurde, weil auch Emerson nicht wusste, was es denn wirklich bedeuten sollte, denn auch er besaß nichts weiter, als nur seine eigenwilligen Überzeugungen , - wie jedermann! Aber Überzeugungen sind nicht etwas, das sich in jedem Fall mit dem Begriff „Erkenntnis“ bezeichnen ließe!
Lasst uns den auf uns eindringenden Haufen von Menschen, Büchern und Institutionen [alles, was von außen auf den eher autistisch geneigten N einstürmte!] erstaunt und bestürzt machen durch eine einfache Darlegung der göttlichen Wahrheit EE.53[die N mit totalitärer Heftigkeit in sich rumoren fühlte!].
Auch dahinter steckten nicht mehr als fromme Wünsche; und wohl auch die Träume all derer, die den „Stein der Weisen“ suchten. - Nur dass Keiner ihn fand! Was sollte diese „göttliche Wahrheit“ - hinausgehend über das Menschliche, das all unsere Vorstellungen umgibt! - darstellen können? Der Antrieb dazu, hinter „ Ihr “ her zu sein, verbarg sich in dem nur allzu menschlichen Verlangen, „Recht zu haben“ gegen alle Anderen; ein autoritärer, tyrannischer Zug, der „sich selbst“, seine eigene „einfache Darlegung“ in für N typisch maßloser Weise als Superlativ gegen alles Andere stellen wollte - und irgendwo in jedem von uns eine stille Glut bewahrt und gelegentlich, bei dem einen oder anderen, zu lodernden Feuern aufzuflammen vermag.
Aber nun sind wir [verglichen mit dem, was wir idealer und vorstellungsweise sein könnten !?] Lumpengesindel. Der Mensch hat weder Ehrfurcht vor dem Menschen, noch fühlt die Seele sich getrieben, bei sich stehen zu bleiben und sich mit dem geistigen Ozean in Verbindung zu setzen, sondern sie geht hinaus, um von den Urnen der Menschen sich einen Becher Wassers zu erbetteln. Wir müssen allein gehen. Isolierung muss einem wahren [in Idealen hängen bleibenden] Zusammensein vorausgehen. Ich liebe die Kirche mit ihrer feierlichen Stille, ehe der Gottesdienst beginnt, mehr als irgendeine Predigt EE.54[was ein begeisterter Aufruf zu absolutem Subjektivismus war!].
Das entsprach Ns Sinn und Zuschnitt. Sein eigenes „Ding machen“, abseits von „den Anderen“. Diese Sätze enthalten nichts, was Ns Tun und Lassen widersprechen würde. Sie werden ihm deshalb gefallen haben. Es darf als sicher gelten, dass N sich von Emerson in keiner seiner ihm eigenen Neigungen widersprochen sah. Im Gegenteil, die Zustimmung ging - für den sonst doch so überaus kritischen N! - in etlicher Hinsicht zu weit. Er hat sich in dem Buch nicht umsonst „so zu Hause und in meinem Hause gefühlt als“, 9.588- so sehr sogar, dass er meinte, es „nicht loben zu dürfen“, wollte er doch die Einmaligkeit dieser Harmonie nicht mit unheiligen Worten berühren; - während er doch sonst überall an so Vielem so viel auszusetzen fand! Es gibt erschreckend wenige Figuren in den Jahrtausenden der Weltgeschichte, von denen N glaubte, dass er ihnen dauerhaft etwas zu verdanken haben könnte und bereit gewesen wäre, das zuzugeben : Vielleicht zählten dazu Voltaire, Montaigne und eine knappe Handvoll von überschätzten Zeitgenossen, denen das „Verdienst“ zukam, dass er sie kaum kannte, wie übrigens auch von Renaissance-Figuren wie der hochrangige Gewaltverbrecher Caesare Borgia einer war.
Wirf deine Seele nicht fort an das Irdische [was starke Anklänge an das Verhalten von Kirchenvater Augustinus und dessen Hang zu „Höherem“ aufscheinen lässt]; lass dich nicht so tief herab [hinsichtlich oben und unten kannte N sich aus, schließlich hatte er sich längsten schon für das Schönburger Zinnen-Oben entschieden!]; behaupte deine Würde; bleibe in deinem eigenen Himmel [in deiner Verherrlichung des Elitären, was notwendigerweise Einsamkeit bringen muss]; lass dich nicht auch nur auf einen Augenblick in ihre [als niedrig und misslich erachteten] Zustände und Begebenheiten, in ihr Geschrei, das einen trostlosen Anschein hat, ein, sondern lass das Licht deines inwendigen Gesetzes [das Gütesiegel Deines „Mach-es-wie-ich“!] in ihre Verwirrung dringen. Die Macht, die die Menschen besitzen, mir Verdruss zu machen, gebe ich ihnen selbst durch ein schwaches Genaunehmen von meiner Seite. Kein Mensch kann anders als durch mein Handeln mir nahe kommen. „Was wir lieben, das ist unser, aber durch das Verlangen danach berauben wir uns desselben.“ EE54.f
Diese Anleitung zu einer sich abkapselnden „Muschel-Moral“ hat N am Rande, zum Teil sogar stark, angestrichen. Dazu machte er sich Anfang 1882 zwei Notizen, die eng zusammenhängen. Die zweite zuerst:
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