Ns dritter Tag in Nürnberg schlug sich in folgenden spärlichen Stichworten nieder: „Morgen. Abschied vom Wirt [wohl vom Hausherren eines Privatquartiers und dieser wird schwerlich „Schmid“ geheißen haben, sonst hätte N dies erkennbar werden lassen]. Gang um die Stadt. Junge. Herrn Bulls Freundlichkeit. Auf die Burg. Aussicht. Rathaus. Gesellenstehen. - Schmid [nochmals der Bücherladen? - zum fünften Mal! Mit diesem einzig wiederkehrenden Namen musste es emotional etwas Besonderes auf sich gehabt haben]. Bahnhof. Ausschmückung. Rosenau. Durch die Stadt. Rückreise. Bamberg.“ BAW1.256-257
Zum Besuch des Kaiserstüblein, das in den Stichworten ungenannt geblieben war, hielt er noch ein Gedicht fest, das ihn scheinbar beeindruckt hatte:
Es gingen hier in der Scheurlbergerhaus Als Gast der Kaiser selber ein und aus Wollt er der [Wiener?] Hofburg stolzes Prangen meiden Drum bleibt Nürnberg, was den Fürsten ehrt Doch auch, was hält auf eignen Bürgerwert Sein Kaiserstüblein lieb für alle Zeiten. BAW1.257
Mit den Worten „Rückreise“ und „Bamberg“, das rund 65 km nördlich von Nürnberg liegt, ist wohl Ns erlebtes „Nürnberg in Stichworten“ zu Ende. Nichts an diesen Eintragungen verrät eine Anteilnahme, eine persönliche Regung, Einstellung, Begeisterung, Ablehnung oder sonst irgendetwas: Festgestellte „Fakten“ sind reduziert bis zur Belanglosigkeit. - Maske? Ein Sichverbergen? Bloß nichts verraten über sich selbst? Zurückhaltung? Oder gar nur der unfreiwillige Ausdruck der Unfähigkeit , zu irgendetwas von außen Kommendem angemessen Stellung beziehen zu können? Ein hilfloser Ausdruck der „Gefühlsblindheit“ des Autisten? -
Zumindest verraten Ns Aufzeichnungen, dass er nicht viel von zusätzlichen Worten, von genauerem Festhalten und Beschreiben des Erlebten hielt: Vielleicht weil sich „ im Erleben “ alles genau genug einbrannte in ihn, so dass er, sich erinnernd, auf überflüssige Worte nicht angewiesen war? - Vielleicht auch, weil er kein Verlangen verspürte, das, was ihn wirklich beeindruckt hatte, nach seinem was und wie nach außen hin - und damit auch zu einem Teil vor sich selbst! - kenntlich werden zu lassen? Offensichtlich genügten die wenigen Worte seiner recht weit gehend autistisch veranlagten Natur, das Erlebte in ihm „lebendig“ und „wach“ zu erhalten. Darauf wird es ihm angekommen sein.
Das innere und verinnerlichte Beschäftigtsein mit der Sommerreise ist mit dem Wort „Rückreise“ aber noch nicht zu Ende. Es folgen im scheinbaren „Durcheinanderstil“ wie zuvor, einige Verszeilen, Wein- und/oder Ortsnamen, Angaben zu Musikalien mit Preisen, ein Zitat des zu seiner Zeit meistgelesenen römischen Philosophen, Dramatikers, Naturforschers und Staatsmannes Lucius Annaeus Seneca, 1-65 n. C, gut acht Zeilen zu dem „Gotenkönig“ „Ermanaricus“ aus dem in Dresden verwahrten „chronicum Quedlinburgense“ des Jahres 1225 - als Hinweis auf ein N seit einiger Zeit schon beschäftigendes Thema.
Danach folgen einige Zeilen mit Abfahrts- und Ankunftszeiten, die sich mehrfach um Bamberg drehen, wobei aber es schwer zu sagen bleibt, worum es sich dabei im logischen und chronologischen Ablauf gehandelt hat. Auch der offizielle „Nachbericht“ zu Ns Jugendschriften schweigt sich über Einzelheiten zu diesen Seiten weitgehend aus. Es ist kaum festzustellen, was davon wieder Pläne, Vorhaben oder tatsächlich Geschehenes war, - was, wozu und wohin es, auch zeitlich, jeweils gehören würde.
Dann folgt ein Gedicht von der romantisch schwermütigen Sorte mit „Herbstnebel rings; in grauem Duft Zerronnen“, dazwischen dann des Weiteren mit „flatterndem Laub“ und „Eulenruf“ und schwermütigem Ende: „In Nacht verschwommen Zittern die Nebelgestalten, die bleichen Um Grab und Gruft“.
Darunter erscheint dann, als ob es zu dem Gedicht gehört - endlich! - wie ein kleines flackerndes Lichtlein im dunklen Wald, sehr klein geschrieben - aber dennoch von befreiender Eindeutigkeit ! - ein Datum: „21.8.61.“ Zu dem so zufällig und nebenbei angegebenen Zeitpunkt ist die Sommerreise aber bereits seit mehr als zwei Wochen - mindestens ! - beendet, sodass ziemlich sicher ist, dass N sich längst wieder in Schulpforta befinden musste.
Um seiner selbst willen geht es an dieser Stelle um dieses Datum nicht: Nach diesem Datum findet sich allerdings eine Eintragung, welche - das ist mit einiger Sicherheit anzunehmen! - erst in Pforta oder Naumburg an diese Stelle geraten sein wird und dort steht nun - als ein unter Ns Feder emotional heftig explodierter Fetzen glückseliger Erinnerung und im Zug oder Schub einer Gefühlsaufwallung, zu der N „vor Ort“ entfernt nicht fähig gewesen war, ja zu der er in gleicher Weise den Mut niemals aufgebracht hätte! - dort steht nun, was durchaus stutzen macht in klaren, wenn auch gleichsam berauschten Worten zu lesen:
„O Nürnberg, Nürnberg, heilige Stadt
Ich hab dich lieb wie keine.“
Darunter wiederum stehen, von gleich elementarer Wichtigkeit - und scheinbar als Teilgebiet dessen, was N gerade im Zusammenhang mit Ermanerich erfüllt haben könnte - vier Worte, welche sich, wegen allem, was folgt, als ungeheuer aussagefähig, gehaltvoll und verräterisch erweisen :
„Über Fatum und Geschichte“ BAW1.249-259
Was konnte inzwischen passiert sein, dass es bei N plötzlich - rückwirkend ! - zu diesem „Nürnberg heiligenden“ Aufschrei kam? Wie ließe er sich erklären? Nichts hat auf derlei hingewiesen als er sich dort befand! Jetzt plötzlich dagegen dieser elementare Gefühlsausbruch und dazu eine absolut superlativ gemeinte, hemmungslose Liebeserklärung!?
Zu den vier Worten, die dieser leidenschaftlich hervorgebrachten Liebeserklärung folgen , muss man wissen, dass sie mit dem unmittelbar danach genannten „Ermanarich“ oder römisch „Ermanaricus“ absolut nichts , - aber mit dem auch und sogar auf besondere Weise an dieser Stelle ungenannt gebliebenen Amerikaner Ralph Waldo Emerson alles zu schaffen haben, was für N je von Bedeutung war, ist und sein sollte! - Die vier nachfolgenden Worte „Über Fatum und Geschichte“ beweisen nämlich - insbesondere nach dem geradezu liebestoll hervorgebrachten Stoßgebet an „Nürnberg, Nürnberg“, die nach Ns Werthaltung nun erklärterweise sogar „heilige Stadt“ - dass N auf der Reise nach Nürnberg - und dort sicherlich in einer „Buchhandlung von Schmidt“ - mit der Bedeutsamkeit der Worte „Fatum“ und „Geschichte“ gewissermaßen aufgeladen worden ist und er mittlerweile angefangen hat, sich in dem 448 Seiten umfassenden Schatz von Emersons „Essays“ zurecht und - auf eigentümliche Art und Weise - wie noch zu erklären ist! - auch wieder zufinden, denn einzig und allein von dem amerikanischen Schriftsteller Ralph Waldo Emerson her werden die angefügten vier Worte in dem Umfang verständlich , den sie für N von dieser Zeit an besitzen sollten!
Hier nur so viel: Das erste Kapitel des 1858 auf Deutsch erschienen „Essay“-Bandes von Emerson trägt den Titel „Geschichte“ und führt Zusammenhänge auf, bei denen N ganz schwindlig geworden sein musste, wenn er derlei - wie er es mit allem tat! - auf sich selbst beziehen wollte, sollte, konnte und der Umstände halber sogar musste . Dazu war N der ganz nah bei der Geschichte liegende Begriff des „Fatum“ in seiner ganzen Bedeutungsfülle als der von den Göttern abhängige Schicksalsbegriff durchaus geläufig. Die beiden Worte zusammenzubringen entsprach dem Eindruck, den N von Emersons Geschichtskapitel empfangen hatte, nein, der aus diesem „über ihn gekommen war“ ; - in Verbindung zu Inhalten aus den weiteren Kapiteln, die er inzwischen zu lesen, in sich aufzunehmen und zu verinnerlichen Gelegenheit gefunden hatte.
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