Zwei Tage darauf schrieb N der Mutter am 9. November:
Den Brief an den Großpapa habe ich sogleich Sonntagabend geschrieben, hatte aber nicht Zeit, den Deinigen zu beenden. Deshalb konnte ich den Brief und die Schachtel Montag nicht absenden und Du bekommst ihn erst Dienstag ….. Schickt mir die Schachtel nur gleich gefüllt wieder, damit ich sie dann schnell wieder absenden kann; denn es soll nächstens [Anfang Dezember] Generalvisitation sein und da muss alle schmutzige Wäsche fort sein. Ich brauche noch folgendes: Briefpapier, Briefcouverts, Schere, Heftzeug, Pomade, blaues Umschlagpapier. Denkt einmal nach, ob etwas fehlt! - Lang kann ich nicht schreiben, da ich auch noch Wilhelm schreiben will. Nur noch dies: Kommt doch Mittwoch heraus, dass ihr um 1 Uhr da seid; ich hoffe euch da sicher zu sprechen ….. Meine Schlittschuh sendet doch auch bald. Wisst Ihr noch was anderes so vergesst es ja nicht; ich könnte beim Verzeichnis des mir noch Fehlenden Manches übergangen haben. Nun lebt wohl ….. (33)
Und zwei Tage später, nach dem angesprochenen Mittwoch, der aber nicht wahrgenommen werden konnte, hieß es schon wieder:
Vergesst nur ja nichts von den zu schickenden Sachen ….. schickt mir übrigens auch solche Zinksalbe und Lippenpomade mit ….. ebenso ein Stückchen gute Seife. Dann ein paar Bogen blaues Umschlagpapier und 2 Bogen rotes Löschpapier ….. (34)
Der Brief weitere drei Tage später, inzwischen von Mitte November 1858, enthält unter anderem:
Ich warte jetzt täglich auf einen Brief von euch, Aber es kommt gar keiner ….. Sonntag komme ich nicht nach Naumburg; es ist unsre Wohnung [das gerade bezogene Haus am Weingarten Nr. 18, 500 m weiter östlich gelegen] für zwei Stunden [die er zwischen den Unterrichtsstunden frei hatte] zu weit; kommt lieber nach Almrich ….. Ich brauche ja noch mehreres ….. Süpfle [Karl Friedrich, 1799–1871, ein deutscher Pädagoge, wohl ein Buch von diesem], Hahns preußische Geschichte, Schokoladenpulver, Spiegel, Halstücher und vor allem Brillen. Lasst mich ja nicht lange darauf warten; ich brauch alles sehr notwendig. - - Ich glaube übrigens fast, das Heimweh kommt noch bei mir nach; mitunter zeigen sich Spuren ….. (35)
Das Heimweh, wenn es denn welches gab, beruhte vor allem auf den gigantischen Versorgungsproblemen, deren Lösung er von den Seinen erwartete; - selber aber nur Forderungen hatte, entsprechend dem, was ihm gerade einfiel; - ohne bei sich bietenden Gelegenheiten vorauszudenken !
Am 21. November 1858, einem Sonntag, schrieb Ns bester Naumburger Freund Wilhelm Pinder einen längeren Brief:
Endlich lieber Fritz kann ich an Dich einmal wieder schreiben. Schon lange hatte ich die Absicht dies zu tun, hatte aber nie Zeit meinen Plan auszuführen. - Es geht mir, Gott sei Dank, ganz gut. Die Arbeiten haben etwas nachgelassen, überhaupt führe ich jetzt ein ganz angenehmes Leben, nur Du fehlst mir bei jeder Gelegenheit. Aber desto mehr freue ich mich auf das liebe Weihnachten, was nun immer näher heranrückt, denn nächsten Sonntag ist ja der erste Advent! ….. Am 16. November war der Geburtstag von Gustav [Krug]. Derselbe hat zum Geschenk ein Buch erhalten, in welchem sehr interessante musikalische Briefe von Berlios [Hector Berlioz, 1803-1869, ein französischer Komponist der Romantik] stehen ….. Ich hoffe doch, dass Du bei Deiner bisherigen Absicht bleiben wirst, Dir Hauffs Werke zu wünschen [Wilhelm Hauff, 1802-1827, war ein deutscher Schriftsteller der Romantik; erfolgreich vor allem durch Märchen und Erzählungen] ….. Endlich werde ich nun wieder daran denken, meine Biographie zu vollenden, denn die Zeit, das schöne herrliche Weihnachten rückt immer mehr heran, wo ich dir meine Arbeit abgeben muss. Adieu geliebter Fritz! „Semper nostra manet amicitia!
„Wo ich Dir meine Arbeit abgeben muss“? Das sollte wohl der vollendete biographische Abriss aus seinem Leben sein, - um eine „Pflicht“ zu erfüllen? Zu der Zeit also muss zwischen den beiden schon eine - sicherlich mündlich getroffene! - Übereinkunft bestanden haben, wie sie dann im Juli 1860, als verpflichtende „Leistungsgemeinschaft“ unter dem Namen „Germania“ und unter Einschluss von Gustav Krug feierlich gegründet zustande kommen sollte. Ein „Verein“ zu zweien! Zu dessen Mitglieder pflichten es gehörte, „produktiv“ zu sein, etwas vorzulegen um sich kritisieren zu lassen, aber auch, um sich leistungs- und wettbewerbsmäßig hervorzutun und „darzustellen“. N vor allem liebte dieses „Spiel“, bei dem für seine Lust am Argumentieren viel zu gewinnen war. Seinen Freund Wilhelm hatte er bereits mit seinem eigenen Lieblingsthema in die Pflicht genommen. Dafür waren die gerade Vierzehnjährigen mit ihren sich wohl als vorbildlich empfindenden „Biographien“ beschäftigt.
Im Dezember 1858 schrieb N ein 40 Zeilen langes Gedicht über einen, wohl schon einige Wochen zurückliegenden Klassen- oder gar Schulausflug nach der von Schulpforta aus östlich, durch Naumburg hindurch auf der anderen Seite hoch über der Saale liegenden, knapp 10 km entfernten, in Resten erhaltenen Burgruine „Schönburg“ mit hohem rundem Turm und einem Restaurationsbetrieb unten im Keller. Der alles immer sehr genau nehmende N-Biograph Paul Janz beschreibt die Szene so:
Mit seinen Mitschülern wurde N lange Zeit nicht recht warm. Es ging hier ähnlich wie auf dem Gymnasium in Naumburg. Ihre derben und lärmenden Vergnügungen [durchaus nicht unabsichtlich abwertend formuliert, um N zu stilisieren!] sagten ihm nicht zu. So stieg er zum Beispiel bei einem Ausflug auf die Schönburg allein auf den Turm, während alle andern im Keller die Becher schwangen und fühlte sich glücklich. „ Mir ganz allein überlassen. Sie mögen dort in den Hallen nur zechen bis sie umfallen. Ich übe mein Herrscheramt.“ J1.81f
Hier darf nicht unbeachtet bleiben, dass Paul Janz bei der Beschreibung dieser Anekdote wie in einem automatischen Reflex vornehmlich negativ besetzte Bezeichnungen für „die Anderen“ benutzte, um den edelgesinnt Bewunderten, höher strebenden Turmbesteiger auch bei dieser Gelegenheit unterschwellig hervor und empor zu heben; - dies übrigens trotz der Tatsache einer nachweisbaren Unmasse zerrissener Hosen während Ns Pförtner Schülerzeit, was doch eher in die entgegengesetzte Richtung, jedenfalls nicht in ein so sehr abgesetzt erhöhtes und überhöhtes Verhältnis zu „den Anderen“ weist. Paul Janz hat diese „Szene“ hergeleitet aus einem nur mit dessen letzten vier Zeilen zitierten Gedicht des damals Vierzehnjährigen. Das gesamte Gedicht allerdings setzt in Bezug auf die „Geselligkeit“ und die seelische Dringlichkeit des Ganzen einen deutlich anderen Akzent und war - rückblickend auf das N sehr wohl beeindruckt habende Erlebnis an sich! - erst einige Wochen später entstanden - und zudem eindeutig auf das darin vorgetragene „Herrscheramt“ wohlüberlegt ausgerichtet . Es lautet in rundweg begeisterten Tönen in seinem vollen Umfang, unfreiwillig zwischen „wir“ und „ich“ pendelnd, folgendermaßen:
Zur Schönburg, zur Schönburg Marschierten wir lustig: Denn dahin da musst ich [aus sehr persönlichen Gründen!] Es mochte nun kommen Wie’s wollte und wäre Der ganze Himmel Herniedergeschwommen [fiel der Ausflug auf einen recht regnerischen Tag?]. Das gleichviel! Auf Ehre! Das Wetter war prächtig Die Seele frisch munter Die Stimme des Herzens War ja zu mächtig. An dem Ufer der Saale Gings hin im Tale Und endlich - da sahn wir Auf leuchtenden Höhen [so wild aber dürfte es de facto gar nicht gewesen sein!] Die herrliche Feste, Die [Ruine der!] Schönburg stehen. Bald war sie erklommen Im Sturme genommen Und Keller und Becher Bezwangen die Zecher [„die Anderen“] Mit tapferen [das hieß trinkfesten!] Schlünden. Doch nicht aus den Gründen War ich ja gekommen; [was durchaus nicht ganz so kollektivwidrig und unangeschlossen an die „Kameraden“ klingt, wie Janz glauben zu machen versuchte. Allerdings hatte N - zusätzlich übrigens! – Anderes, ihn Erhöhendes, vor und beschrieb dies ab der 26. Zeile:]
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