Das alles klingt - vor allem in dem Durcheinander in dem es steht - recht verzweifelt, desorientiert und verloren. Es ging weniger um verdecktes Heimweh als um entbehrtes Versorgt-sein und das Nichtwissen, wie es mit ihm weitergehen soll, - war er doch ständig häusliche Hilfe, Rat, Anleitung und Beistand gewohnt: Auch in den simpelsten Angelegenheiten, wie hier deutlich wird! Am Tag nach seinem ersten Geburtstag, dem 11 Tag „in der Fremde“ bedankte N sich bei der Mutter „für alles, was Du mir ….. geschickt hast“ und lieferte nach der vollen, sich allerdings schon mit Abkürzungen behelfenden Signatur, noch den Aufschrei „ Schickt Brillen!!! “. (25) Da er offensichtlich noch nicht ordentlich sehen konnte!
In einem Brief vom Sonntag, den 17. bis Freitag, den 22. Oktober 1858 schrieb er an die Mutter:
Ich danke Dir noch viele Mal für die Schönen Weintrauben; sie schmecken mir ausgezeichnet. Überhaupt habe ich mich ungemein gefreut, Dich wieder einmal zu sehen. Nun, vielleicht nächsten Sonntag wieder. - Mir ist noch manches eingefallen, was ich noch nicht habe, so Brillen [immer noch!], Schokoladenpulver, preußische Geschichte von Hahn, Schere, Nähzeug, Löffel, Messer und noch manches. Ach schickt mir dies doch so bald als möglich . Seid doch so gut! ….. Schreib mir doch recht bald. Schicke mir doch auch den Kasten für die Schere usw. mit! (26)
Gleich darauf folgte am Samstag den 23. Oktober 1858 ein weiterer Brief an die Mutter:
Liebe Mamma! ….. Auch noch vielen Dank für das Stückchen Kuchen, den Brief und die zukünftigen Weintrauben. - Sonntag kann ich also nicht kommen [da lag wohl eine Absage der Mutter vor]; nun da werde ich einmal in den Wald gehen. Aber schickt mir doch recht bald meine Sachen; ich brauch sie zu notwendig, oder noch besser, bringt sie mir selbst. Könnt ihr einmal in der Zeit von 12-2 kommen? Ich würde mich sehr freuen. Hier in Pforta ist Freitag ein Alumnus gestorben nach langen schweren Leiden. Sonntag wird er begraben. - Schickt mir doch auch einen silbernen Kaffeelöffel; er soll schon nicht wegkommen und ich brauche ihn bei meiner Milch sehr nötig. - (27)
Unter dem Datum Mittwoch 27. bis Samstag, 30. Oktober 1858 schrieb N wieder an die Mutter:
Liebe Mamma! Leider kann ich Dir heute noch nichts Bestimmtes melden ….. Aber richte Dich nur auf unsern Besuch ein ….. Ich schicke Dir auch noch das Register von allem noch Nötigen, damit du es bis Sonntag noch beschaffen kannst. Es wird so ziemlich vollständig sein; vergleiche aber lieber die Briefe noch einmal [womit er zugab, selber die Übersicht verloren zu haben – oder nur keine Lust hatte, das selbst zusammenzustellen?]. - Wilhelm und Gustav und Tante Rosalchen würde ich doch wohl Sonntag sehen! Lass es ihnen doch sagen. - Ich werde Sonntag recht viel zu erzählen haben; ich freue mich schon darauf. Nun in 7 Wochen werden wir uns länger sehen [in den acht Weihnachtsferientagen]. Was ich diesmal auf das liebe Weihnachtsfest mich freue, das ist ungeheuer und noch nicht dagewesen; nur etwas trauert mich; dass ich mich nicht über Wünsche und Geschenke mit meinen Freunden bereden kann, wie ich doch sonst tat ….. [beigefügt war die oben angekündigte Liste:] 1. Brillen, 2. Stahlfedern (Rosen), 3. Stahlfederhalter, 4. Hahn, preußische Geschichte, 5. Tinte (von Präger), 6. Teelöffel, 7. Schreibzeug, 8. Heftzeug, 9. Nähzeug, 10. Messer, 11. Schere, 12. Kasten (zum Hineinlegen), 13. Schokoladenpulver. Nun, das brauch ich noch alles!! (28)
Und das schon seit über drei Wochen!
Am Sonntag den 31. Oktober 1858, und wohl nach einem Besuch in Naumburg? - schrieb er der Mutter:
Liebe Mama! Gleich noch heute Abend will ich an dich schreiben. Es war ungemein hübsch, dass wir so lange zusammen waren. Wenn es nur bald wieder geschehen könnte! - Übrigens habe ich witziger Weise die Uhr mitgenommen, aber ohne Schlüssel und Gehäuse [irgendwelche Umsicht war offenbar in jeder Hinsicht nicht Ns Sache gewesen! Er zeigte sich jedenfalls immer wieder als ausnehmend unselbständig und fragmentarisch in seinem Tun und Lassen!]. Nun schickt mir das mit den Anderen so bald als möglich [wieso aber hatte N das Meiste von dem Kleinkram bei seinem letzten Besuch nicht mitgenommen?]. Ich glaube nun auch, ihr kommt öfters einmal. Nun mir gereicht’s immer zur größten Freude. - Schreibe mir doch einmal alle Wäsche auf, die du mitgegeben hast damit mir nichts wegkommt ….. Dein Fritz respt. Fr. W. N. Alumnus portensis (29) [wieder der Stolze „Zögling in Schulpforta“. Die Mutter sollte die Wäscheteile aufschreiben, damit ihm nichts wegkam. Er ließ sich bedienen, hinten und vorn, vergaß alles, dachte von selbst an nichts und war nicht in der Lage, sich selbst zu organisieren und zu verwalten. Anfang November fehlten ihm immer noch Tinte, Nähzeug, Heftzeug, Pomade für die Haare, Schere, Schreibzeug und Briefcouverts.] „Nun schickt mir dies recht bald“ fordert er; „was noch leer ist in der Kiste [die ständig zwischen Schulpforta und Naumburg durch einen Transportdienst hin und her wanderte] werdet ihr schon auszufüllen wissen. (Nüsse) Deine Birnen haben mir ausgezeichnet geschmeckt: ich danke Dir viele Mal. Ich schicke Dir wieder etwas Wäsche (ich glaube zwei Hemden und 1 Schnupftuch) und Jung-Stilling [Johann Heinrich, 1740-1817, ein Buch des deutschen Augenarztes, Wirtschaftswissenschaftlers und Schriftstellers der Erweckungsbewegung zu praktisch christlicher Lebensweise] nebst den modernen Klassikern. Heb’ alles recht gut auf ….. (31)
So ging es ewig weiter, ihm doch dies und das und immer noch etwas zu schicken, zu erledigen, zu besorgen oder aufzubewahren und was sonst immer nötig war.
Anfang November 1858 schrieb N aus Pforta an seinen Freund Wilhelm Pinder in Naumburg:
Lieber Wilhelm! Endlich ist mein längst gefasster Entschluss zur Ausführung gekommen. Verzeih, dass ich Dich mit meinem Brief so lange habe warten lassen. Nun, ich denke von nun an wollen wir uns wechselweise uns ununterbrochen schreiben. Sage dies auch Gustav [Krug. - Er, N, ordnete an, bestimmend und die Führung übernehmend - nur nicht in eigenen Angelegenheiten!] - Schon rückt die goldene Weihnachtszeit näher heran ….. Leider können wir uns gegenseitig unsre Wünsche nur schriftlich mitteilen ….. Wenn ich nicht irre, so hast du dir schon ein Buch gewählt ….. ich halte deine Wahl für vortrefflich ….. Habe doch die Güte und schreibe mir nächstens eine Anzahl von Werken nach meinem Geschmack. Du wirst schon wissen. - Bis jetzt befinde ich mich in Pforta ganz wohl; schreibe mir doch einmal, was ihr dies Semester in der Klasse lest. Besonders leid tut mir, dass wir keinen Homer lesen. Im Jakobs [einer griechischen oder lateinischen Grammatik?] haben wir schon alle Deklinationen privatim übersetzt ….. Viel ungezwungener war man auf dem Gymnasium in Naumburg; das ist sicher. Aber etwas zu frei war es auch, das wirst du nicht leugnen. Sogar in mancher Beziehung bin ich froh, dass ich davon fort bin. Du glaubst aber wiederum nicht, wie oft ich wünsche, in Naumburg bei dir zu sein; es war doch gar zu gemütlich. Die schöne Zeit ist nun vorüber und ich darf nicht daran denken, um nicht traurig zu werden ….. Vergiss ja nicht, was ich mir jetzt als stehende Unterschrift gewählt habe: Semper nostra manet amicitia! [Ewig währe unsere Freundschaft, - eine Formel, die er einige Jahre beibehalten sollte] Dein Freund F[riedrich].W[ilhelm].N. (30)
Am 7. November 1858, die ersten vier Wochen in Schulpforta waren gerade vorüber, schrieb N an seinen Großvater David Ernst Oehler in Pobles:
Lieber Großpapa! Verzeih, dass ich erst heute Dir für Deine Glückwünsche und den Taler zu meinem Geburtstag [am 15. Oktober] danke. Schon längst hatte ich vor, dies zu tun. Aber du glaubst nicht, wie genau unsre Zeit ausgefüllt ist und ist einmal ein Augenblick leer, so muss ich nach Naumburg an die Mamma schreiben, da mir noch manches Notwendige fehlt. - Wie ich gehört habe, ist die Großmama in Naumburg gewesen und es hat mir sehr leidgetan, sie nicht sehen zu können. Nun ich vertröste mich auf die liebe Weihnachtszeit; ein paar Tage bin ich doch vielleicht, wenn ihr es erlaubt, in Pobles. - Bis jetzt befinde ich mich in Pforta ganz wohl; an die Ordnung und Einrichtung muss man sich freilich sehr gewöhnen. Sehr angenehm ist mir, dass ich alle Sonntag wenn auch nur auf kurze Zeit in Naumburg sein kann; es gibt ordentlich Mut, wenn man in der Woche an den lieben Sonntag denkt [an denen er aber nichts von den vielen Kleinigkeiten, die ihm fehlten, einfach mal auf die Reihe kriegte, einpackte und mitnahm.] ….. (32)
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