Herbert Müller - Lebenskreise in einer deutschen Stadt

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Die Geschichte spielt Mitte der 80er Jahre bis zur deutschen Wiedervereinigung und ist bereits ein historisches Dokument, da einige Örtlichkeiten und Verhältnisse sich inzwischen geändert haben. Es geht um die Suche des in die Jahre gekommenen Erwin nach dem jungen Roland, der verschwunden ist. Dabei lernt der Leser das Milieu kennen, in dem Erwin sich bewegt, und erfährt Vieles auch aus dem Leben weiterer Figuren.

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Herbert Müller

Lebenskreise in einer deutschen Stadt

Roman aus dem Würzburger Milieu der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts

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Inhaltsverzeichnis Titel Herbert Müller Lebenskreise in einer deutschen Stadt - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Herbert Müller Lebenskreise in einer deutschen Stadt Roman aus dem Würzburger Milieu der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Dieses ebook wurde erstellt bei

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Impressum neobooks

Kapitel I

"Tut mir leid", sagt die Arbeitsvermittlerin freundlich", es gibt nichts. Und für eine weitere Maßnahme besteht eine Wartezeit von vier Monaten." - "Aber", entgegnet Erwin, der Erwerbslose, "das ist doch vollkommen unsinnig! Da bezahlt einem der Staat eine Maßnahme für über zehntausend Mark, nur damit man dann doch wieder auf der Straße sitzt und die erworbene Qualifikation vergisst."

"Mehr kann ich für Sie nicht tun. So lauten nun einmal die Gesetze. Und ich richte mich nur nach meinen Vorschriften. Wenn Sie nach dieser Wartezeit einen Arbeitgeber finden, der Sie unter der Bedingung, dass er von uns die Förderung im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bekommt, einstellt, dann ließe sich etwas machen."

"Aber ich habe doch jetzt erst diese Fortbildung gemacht, damit ich in den Arbeitsprozess wieder reinkomme. Wozu dann überhaupt ABM, ich will richtige Arbeit?!"

"Ein Arbeitgeber geht davon aus, dass Sie nach so langer Arbeitslosigkeit eine längere Einarbeitungszeit brauchen als normal."

Es hat keinen Sinn, weiterzubohren. Schon oft hat er an dieser Front gekämpft. Mit dem Anwalt gedroht. Ein Freund empfahl ihm, einen aufzusuchen. Umsonst – er erfuhr dort, dass man bei einem Rechtsstreit mit dem Arbeitsamt in der Regel den Kürzeren zieht. Rumgeschrien hatte er auf dem Arbeitsamt, und sich dabei unbeliebt gemacht.

"Das bringt doch nichts", dachte er schließlich, "man ist auf die Leute angewiesen."

"Auf Wiedersehen, Frau Schmal, sagt er, und geht. Er schlurft die Sanderstraße entlang. Wirft einen kurzen Blick auf die schönen Mädchen auf den Titelseiten der Herrenmagazine am Kiosk an der Ecke. Ein paar mal hatte er sich überwunden, so etwas zu kaufen. Aber was soll's, ist ja doch immer dasselbe, zu schade ums Geld! Dann steigt ihm der Duft aus der Bäckerei Sandertorbäck in die Nase. Er geht rein. Es duftet nach frischen Brötchen. In einer Vitrine lachen ihn Tomatenmark und Salami von mittelgroßen Pizzen an. Ohne mit der Verkäuferin mehr als zwei Worte gewechselt zu haben, verlässt er nach sieben Minuten das Geschäft. Die Arbeit des Mikrowellenherdes hat so lange gedauert. Schnell ist die Pizza aufgegessen. Erwin spürt noch immer ein leichtes Hungergefühl. Aber er weiß schon, das geht gleich vorbei. "Etwas Warmes braucht der Mensch", denkt er. Er geht zum Arbeitslosentreff in der Martin-Luther-Straße, der vom Diakonischen Werk unterhalten wird. Er steigt die Stufen zu der gemütlichen Kellerwohnung hinunter, die mit Teppichboden ausgelegt ist. Dort trifft er Roland und Silke. Silke, die Sozialpädagogin hier, hat gerade eine Kanne Kaffee gekocht. Es ist 1.00 Uhr mittags.

"Zum Frühstück kommst du zu spät, Erwin", sagt Silke.

"Danke, hab' schon gefrühstückt", sagt Erwin in einem vollmundigen Bass. Dabei hatte er ja bloß die schäbige Pizza gegessen. Erwin begrüßt Roland, und Silke stellt die volle Kanne schwarzen Kaffee aus Jenaer Glas auf den Tisch. Der Duft steigt Erwin in die Nase. "Unsere gute Fee", sagt er.

Silke lächelt, dann schlendert sie in Richtung ihrer Arbeitsecke und nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. Roland hat ihr Lächeln in sich aufgesaugt. Sie hat es nicht gemerkt. Er wendet sich hastig um. Tatsächlich, sie ist hinter ihrem Schreibtisch verschwunden! Sie soll nicht hören, was er Erwin jetzt zu sagen hat. Der hat sich schon eine Tasse mit dem heißen, duftenden Kaffee vollgegossen. "Willst du auch einen?"

"Danke, hab' vorhin schon zwei Tassen getrunken." Vor Roland steht eine große Porzellantasse. Auf ihrem Boden trocknet ein brauner Ring aus Kaffee und Milch langsam an. Es ist warm hier. Erwin zündet sich eine Zigarette an. Roland mag das gar nicht so.

"Stell dir vor, ich habe eine Traumfrau aufgerissen", platzt es aus ihm heraus. Das Wort Traumfrau zieht er ganz lang.

"Wie schön für dich!" entgegnet Erwin, nach Rolands Geschmack zu kühl, und nimmt den ersten Zug aus seiner Zigarette. Auf dem Tisch stehen zwei Aschenbecher herum, die bereits voll sind mit Kippen. Viele haben hier heute schon gefrühstückt. Beide, Erwin und Roland, tragen schon leicht abgenutzte Klamotten.

"Du, ich sag' dir, das ist was Echtes! Wir haben uns im Zauberberg kennen gelernt. Sie ist Französin. Spricht aber deutsch. Kommt aus dem Elsass."

"Was ist sie denn von Beruf?"

"Sekretärin. Und ganz heiß!" Er blickt sich wieder nach Silke um. "Wir haben uns schon geküsst." - "Wie sieht sie denn aus?"

"Eine Figur, sag' ich dir, eine Traumfigur. Spitzbusen. Schwarze Haare." Roland zeichnet eine ausgeprägt weibliche Figur mit seinen Händen vor Erwin in die Luft. Er ist ganz aufgeregt.

Erwin denkt nach. "Ja...und...Wie kommt die Frau denn aus dem Elsass nach Würzburg?"

"Sie überlegt sich, hier noch 'mal zu studieren, weil der Job zuhause sie anödet. Sie findet, Würzburg ist eine schöne Stadt. Da konnte ich ihr nur beipflichten und habe ihr alles gezeigt. Besonders angetan war sie von der Residenz – dem Deckengemälde von Tiepoli..."

"Und wo wohnt sie hier, bei dir etwa?" Erwin zieht die Stirn kraus. Er muss an Rolands Räuberhöhle denken. "Da ist sie doch bestimmt rückwärts wieder rausgefallen."

"Du wirst lachen, alles ist aufgeräumt! Richtig wohnlich sieht es jetzt aus. Sogar einen Blumenstock mit Blüte hab' ich aufgetrieben. Einen Weihnachtsstern. Du weißt doch, bei mir halten sich Blumen nicht so gut. Sie wohnt bei einer Freundin. Noch."

"Und wie heißt sie?"

"Jaqueline."

"Das tut dir bestimmt gut, Roland, möbelt dich richtig auf."

Er schaut ihm kurz ins Gesicht, dann umklammert er seine halbleere, aber noch warme Kaffeetasse, starrt hinein und fügt hinzu: "Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen."

"Was heißt hier, 'nicht zu viele Hoffnungen', wir haben sogar schon vom Heiraten gesprochen!" - "Wenn das mal gut geht!"

"Na ja, nur im Scherz. Aber sie liebt mich, glaub' mir!"

"Glauben ist immer gut", entgegnet Erwin leicht ironisch.

"Wieso denn nicht?"

"Ist schon o. k., Roland, ich will dir den Spaß nicht verderben, aber Frauen und unsereins..."

"Du meinst, wegen deiner Scheidung", Erwin trinkt den Rest seiner Kaffeetasse aus.

"Kann sein. Mach's gut, Roland, ich muss weiter."

"Warte, ich muss dir noch was zeigen!" Hastig packt Roland zwei schwarze Schatullen aus, eine große rechteckige, und eine kleine quadratische. Die legt er vor Erwin auf den Tisch. Der ahnt schon, was jetzt kommt. In diesem Augenblick wird auch Silke aufmerksam, denn Roland ist etwas laut geworden. Sie lässt ihren Kugelschreiber fallen und geht zu dem Tisch der beiden Männer. Hinter Roland bleibt sie stehen, als dieser die beiden Schatullen aufklappt und mit der Innenseite vor Erwin hinstellt.

"Hier, ich hatte Glück, beim Kaufhof ist grad' Räumungsverkauf. Das Collier aus echtem Silber, und mit einem Industriediamanten, nur neunundsiebzig-achtzig." Roland spricht schnell. "Und der Ring, dazu passend, ebenfalls ein Industriediamant, neunundreißig-neunzig!" Silke tritt neben den Tisch, Roland bemerkt sie mit einem unsicheren Blick. "Roland?" Sie schaut ihn an, lächelt, "Das ist ja toll. Darf man fragen, wer die Glückliche ist?"

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