"Du meinst das mit der nackten Frau, was du mir mal erzählt hast."
"Zum Beispiel. Daran erinnerst du dich, was?"
"Sie war eine wunderschöne Frau. Du warst von ihrem Aussehen fasziniert. Sie stand mitten in der Gruppe einfach auf, zog sich aus bis auf ein ganz knappes Höschen und sie tanzte euch vor. Ganz nackt durfte sie nicht, da gibt es irgendwelche Gesetze dagegen."
"Ja, genauso war's. Als ich sie das erste mal sah, sagte ich: 'Sie sind aber eine schöne Frau!' - 'Genau das ist mein Problem.' entgegnete sie.
Jeder in dem Kurs ist aus sich herausgegangen. Das war eine schöne Erfahrung. Aber bei weitem nicht die wichtigste."
"Du meinst dieses Erleuchtungserlebnis, wovon du mal erzählt hast."
"Ich sag's dir, du bist nicht mehr derselbe, wenn du so etwas erlebt hast. Dieses Licht, diese Klarheit! Ein paar Tage lang hat es gedauert."
"Was war es denn genau?"
"Die unmittelbare Begegnung mit einem allumfassenden Wesen."
"Jesus?"
"Wenn du so willst."
"Aber es geht auch wieder ganz tief 'runter."
"Natürlich, das gehört dazu. Du hast auch wieder sehr schwache und dunkle Punkte. Das kommt mit der Zeit. Doch das macht nichts. Weil du ein ganz anderer Mensch bist." Erwin ist skeptisch. Er will gar nicht so tief in Helmuts geistige Welten eindringen. Er merkt, dass dieses Spirituelle sehr viel Kraft von ihm fordert. Dennoch muss er auf irgendeine Weise tatsächlich glücklich sein. Jetzt haben sie ihren Kaffee ausgetrunken.
"Du, ich muss jetzt los. Ein Kind abholen, für das ich im Moment Tagesvater bin", sagt Helmut.
"So etwas machst du. Das finde ich gar nicht schlecht."
Sie stehen auf und geben ihr Geschirr an der Theke ab, dann gehen sie hinaus.
"Du, ich bringe dir die Bücher morgen vorbei."
"Ach, das eilt nicht. Du kannst sie ruhig noch eine Weile behalten. Trotzdem - besuch' mich ruhig mal, wenn du Lust hast!"
"Das mach' ich, tschüs!"
"Mach's gut!"
Ihre Wege trennen sich vor dem rechtwinkligen Mensabau.
Versonnen trottet Erwin heim. Er hält sich auch für einen gläubigen Menschen. Es ist gut, so jemanden wie Helmut zu kennen. Der ist einer wie er, wenn er auch manchmal ein bisschen angibt mit seiner "Spiritualität", so wie jetzt wieder. Er kommt in seine kleine Zweizimmerwohnung in der Zellerau. Anders als Roland verbringt er viel Zeit damit, sie immer sauber und ordentlich zu halten. Das ist man sich schuldig, meint er. Er spürt wieder seine Bandscheiben, will sich gerade ein wenig aufs Ohr legen, da klingelt das Telefon. Sein Sohn ruft an. Der traut sich nicht nach Hause in die luxeriöse Höchberger Villa seines Stiefvaters, denn seine Hausarbeit ist schlecht gewertet worden. "Schlampig und phlegmatisch", hat der Lehrer darunter geschrieben. Erwin kann nicht "nein" sagen und schiebt den Gedanken an Ruhe von sich.
"Wenn's brenzlig wird, dann kommst du zu mir", antwortet er, "Deine Mutter wird dich noch mehr ausschimpfen, wenn du auch noch den Nachmittag bei mir verbringst."
"Ist mir egal!" hört er aus der Telefonmuschel.
"Na dann komm! Aber ich habe nichts zu Essen da."
"Macht nix, ich hab' sowieso keinen Hunger."
Kurze Zeit später steht der Junge vor der Tür. Rappeldürr ist er, schlaksig die Bewegungen. Erwin fallen sofort die dunklen Ränder unter seinen braunen Augen auf. Er wirkt abgespannt. Mit heißem Tee erwartet ihn sein Vater. Auf dem alten Küchentisch hat er gedeckt. Kaum, dass er abgelegt hat, sitzt der Junge schon auf dem weißen Küchenstuhl und hat sich eine Tasse vollgegossen.
"Au - ist ja heiß!"
"Das hat frischer Tee nun mal so an sich." sagt Erwin ruhig und setzt sich dazu. "Also was war los, Jürgen?" Jürgen zeigt seinem Vater das bewusste Schriftstück. Dieser schaut sich alles genau an, während der Sohn gierig Erwins Norma-Plätzchen verschlingt, die schon lange im Schrank gelegen hatten.
"Du musst doch echt wenig dafür getan haben", sagt Erwin, "Warum?"
Der Junge führt die Hand zum Mund. Nach einigem Zögern erfährt Erwin von dem Video-Kreis, den sie an der Schule aufgemacht haben, um verbotene Filme aufzutreiben. Und Computerspiele.
"Wenn die Eltern nicht da sind, dann ziehen wir uns das Zeug für über Achtzehnjährige rein." gibt er zu. "Manchmal einen ganzen Nachmittag und dann die halbe Nacht lang. Danach bist du richtig zu."
"Aber warum machst du da mit, wenn du es selber gar nicht so gut findest?"
"Es ist eben in. Was soll man denn sonst machen in dieser Scheißwelt. Geht ja doch alles den Bach 'runter."
Erwin ist ratlos. Er gibt seinem Sohn eines der Bücher mit, das er von Helmut geliehen hat. Zwar glaubt er nicht so recht, dass Jürgen so etwas anrührt, aber schaden kann's bestimmt nicht.
Jürgen geht bald wieder. Erwin kann jetzt nicht mehr schlafen. Er ist unruhig. Macht einen Spaziergang am Main entlang. Es ist diesig an diesem Novembernachmittag.
"Jürgen, Roland - die Welt ist wirklich ganz schön beschissen!" muss er denken. "Doch es geht weiter, immer weiter. Und es muss irgendwann mal wieder besser werden." Er blickt über den trägen, schmutzigbraunen Fluss zu den Weinbergen auf der anderen Seite. Es ist ein wenig heller geworden.
Den Abend verbringt er mit Fernsehen, trinkt eine Flasche Weizenbier dazu. Immer wieder muss er an Roland denken, bis er sich nach ein paar Tagen entschließt, ihn in seinem Zimmer zu besuchen. Doch da ist er nicht. Daraufhin geht er zu Helmut, drückt auf eine der vielen Klingelknöpfe an der gläsernen Eingangsfassade. Der Summer ertönt, er ist also da. Oben in Helmuts etwas schmuddeliger, aber nicht ungemütlicher Ein-Zimmer-Wohnung angekommen, hat Helmut bereits Besuch. Ein anderer Freund von Helmut ist schon da, ein Glas Bier in der Hand. Es geht um dessen Reise nach Indien, um Menschen, denen die Körpersprache wichtiger sei als Erfolg, um einen Guru, der allen ernsthaft versichert: "Ich bin Gott." Um einen Ashram, dessen spirituelle Ausstrahlung längst erloschen ist. Es gebe dort nur noch verschiedensprachige Gruppen, die um sich selbst kreisten.
Erwin will wissen, wie Klaus, so heißt er, dazu kommt, eine solche Reise zu unternehmen. Denn auch Erwin spielt ab und zu mit dem Gedanken, mal einfach weit weg zu gehen. Das war, nachdem er aus seinem eigenen Haus geflogen war. Klaus ist nicht der Typ, der bei Rechtsstreitigkeiten eine gute Figur macht, er legt auch gar keinen Wert darauf. So kommt es, dass jetzt seine geschiedene Frau mit den drei Kindern in seinem eigenen Haus wohnt. Nur ein Zimmer des Hauses soll sie für ihn bereithalten, auf Good-will-Basis.
Erwin hat auch eine Geschichte beizutragen, die des unglücklichen Roland. Sie waren sich einig: er wird es nicht leicht haben.
"Kümmere dich ein bisschen um den grünen Jüngling!" sagt Helmut.
"Vorhin war ich bei ihm, er war nicht zu Hause."
"Kann man nichts machen", sagt Klaus, "hoffentlich macht der Kleine keine Dummheiten.
"Klein ist der gar nicht, zwei Köpfe größer als du."
Klaus ist ein typischer Franke, relativ klein und dunkelhaarig.
"Aber naiv."
"Er ist ein netter Kerl."
"Das kann ich mir vorstellen", sagt Helmut.
Die Biergläser werden leer. Erwin und Klaus wenden sich zum Gehen. Beim Hinausgehen umarmen sie einander. Das ist bei Helmut so üblich. Als Klaus schon im Treppenhaus ist, fallen Erwin die Bücher ein.
"Du, die Bücher habe ich immer noch nicht dabei.
Das eine von dem Singh habe ich meinem Sohn mitgegeben, der macht im Moment eine schwierige Phase durch."
"Macht nichts. Was hat er denn?"
Erwin erzählt es ihm.
"Kannst ein bisschen mit an ihn denken, wenn du meditierst."
"Das mache ich bestimmt. Aber du musst auch etwas dazutun. Konzentriere deine spirituellen Kräfte auf einen Punkt, du wirst sehen, das bringt was!"
"Ich werd's versuchen. Mach's gut."
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