Justine la Mour
Selfie
Ein Patchworkroman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Justine la Mour Selfie Ein Patchworkroman Dieses ebook wurde erstellt bei
Selfie – ein Patchworkroman Selfie – ein Patchworkroman „ I`m not a terrorist, please do not arrest me.” (Vivienne Westwood)
Justine
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Charlotte
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Impressum neobooks
Selfie – ein Patchworkroman
„ I`m not a terrorist, please do not arrest me.” (Vivienne Westwood)
Ein Kristallleuchter wirft mattes Winterlicht in den Raum, Schatten aus Sonnen, Monden und Sternen bevölkern die Wände. Das Sofa im Louis Seize Stil, ein wenig verlassen an der Fensterfront, der überdimensionale Schreibtisch in der Ecke, dunkel und streng. Nichts hat sich verändert seit sie allein ist und wie lange das zurückliegt weiß sie nicht mehr, ihre Erinnerung besteht aus Schattenbildern, die hin und her springen. Abends liegt sie hier und spürt wie die andere in ihr hochkriecht, sich ausbreitet, die Frau, die sie mit ihm gewesen ist. Wie viele sie schon war als sie ihm begegnete und wie viele sie noch sein könnte, auch im Alter noch, bis in alle Ewigkeit wenn sie wollte. Andere Rollen, andere Leben, andere Geschichten. Hineinstürzen und nicht nachlassen. Sie bleibt treu, sich selbst, nicht anderen. Der Sprung ins Leere, begonnen im Moment als sie sich festhielt an dem Glauben, für ihn bestimmt zu sein, wieder der Sprung ins Leere als sie erkennt, ein Irrtum, nichts weiter. Abstürze, die den Höhenflügen der Liebe folgen wie Naturgesetze. Gefühle schwingen sich auf, breiten ihre Flügel aus, suchen eine Zuflucht im weißblauen Himmel, die Alltagssonne im Nacken, die Schwerkraft zieht sie zu Boden. Sie starrt auf den Kristallleuchter, in das Winterlicht, streicht über das samtene Sofa, die abgenutzten Sitzflächen treten schon seit langer Zeit deutlich hervor. Unter ihren Fingerspitzen kaum Widerstand, sanft gleiten sie über den Plüsch hinweg, hin und her, ziehen Kreise, Schlangenlinien, legen Spuren und verwischen sie wieder. In der Erinnerung flattern Bilder an ihr vorbei wie Fotos aus einem digitalen Familienalbum, heller und klarer als jede Gegenwart.
Damals ist heute und heute ist damals. Zeiten schieben sich ineinander und verwischen zu einer einzigen Zeit. Espressowellness hält sie in den letzten Wochen mühsam wach, eine dampfende schwarzbraune Flüssigkeit, immer und immer wieder in den Rachen geschüttet wie bittere Medizin. Seit einigen Tagen hat sich eine Erkältung angeschlichen, vielleicht auch eine Virusgrippe, ohnmächtig ihr Körper wie zähes Fleisch, das von Tag zu Tag schwerer an ihren Knochen hängt. Die Träger ihres BHs nach oben verstellt, das Haarefärben, vor einigen Jahren begonnen mit Strähnchen hat sich zu einer mühsamen Prozedur entwickelt, die sie fast jedes zweite Wochenende durchplanen muss. Stunden gehen dahin, Stunden, in denen sie anderes tun könnte, Stunden, die nichts mehr bewirken als den unaufhaltsamen Verfall einzudämmen. Ansatzfärbung beim Friseur, Botox spritzen für die Stirn, Hyaluronsäure für das Kinn, enthaaren mit Wachs, Arme, Beine, Oberlippe, Bikinizone.
In schwarzweiß Previews sieht sie sich über die Straße gehen, die Zukunft ist angebrochen, keiner erkennt sie mehr, das graugesträhnte Haar hängt schwer ins Gesicht. Ihr Gang ist vorsichtig, Trippelschritte, schwankend, ein Luftzug könnte sie umstoßen. Ihre Stiefel und das weitschweifende Kleid passen nicht zum Gesichtsausdruck, in den Augen steht rund und groß ein fragendes Ich, das den Glauben an sich verloren hat. Sie streunt umher durch Schuhläden, Designerkaufhäuser, Drogeriemärkte, Lederwarengeschäfte. Die Rollen in ihrem Leben sind aufgebraucht, haben eine Hülle zurückgelassen, die papierdünn hin und her weht. Jetzt etwas kaufen, jetzt eine Reise buchen, jetzt Mails schreiben, jetzt Freundinnen treffen, jetzt den Job wechseln, die Wohnung, die Stadt, das Land, es ist einerlei, das Alter holt sie ein, der Tod wartet schon. Im Spiegel erschrickt sie über ein graues Gespenst, das nichts mehr mit ihr zu tun hat, ein lebendig verwesender Körper aus fahler Haut, brüchigen Knochen und stumpfem Haar. Könnte sie doch in ihren Vorstellungswelten leben, sich nicht an der Wirklichkeit stören, nicht an dem Alltag, der sie in eiserne Rüstungen zwingt. Ihre Welt, in hellen Bildern entwerfen, Pinsel ausschwingen und malen statt zu jammern, Jahrzehnte auf großen Reißblättern planen wie Architekten ihre Gebäude. Am besten wäre es, den Umsturz gar nicht zu bedenken, die Möglichkeit des Scheiterns nicht in Betracht ziehen. Surfen im Leben wie im Internet, sich treiben lassen, die Fähnchen nach dem Wind richten. Könnte sie es, könnte sie es, sie kann es nicht, sie muss es können.
Blutstropfen rinnen über Justines Stirn, teilen und verästeln sich, versickern in einem Papiertaschentuch auf ihrem Schoß. Ein Hämatom oder zwei oder drei verschwinden in ein paar Tagen. Diese Nadelstiche beim Botox sind unvermeidlich. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken. Sie schweigt, hält den Atem an, ausatmen oder husten beim Einstich der Nadel mildert den Schmerz. Warum tut sie sich das an? In drei Monaten spätestens wird die Stirn wieder mit Falten übersät sein wie zuvor, die Haut wie mit einem Stempel in der Mitte ihrer Stirn plattgedrückt, an die Seiten gedrängt wölben sich Hautreste auf und bilden weitere Unebenheiten. Faltenneubildung nicht ausgeschlossen, beschränkte Haftung. Täler und Hügel, ihr Gesicht eine Landschaft aus Tälern und Hügeln, ab und zu gepflügt mit Spritzen und Cremes.
Soll sie aufhören, der Natur ihren Lauf lassen bis die Falten zu Kerben werden, die ihr Gesicht zerschneiden, es aufteilen in Facetten wie ein Gitternetz? Das Brennen breitet sich aus und ein greller Schmerz lodert auf, orangerot züngelnd wie Feuer, sie beißt sich auf die Lippen. Wir sind gleich fertig. Die Stimme der Ärztin beruhigt sie, ein paar Tage und sie wird glatt sein, die Stirn, die Folgen ihres Denkens vernichtet, kaltgestellt, gelähmt, das Alter zurückgefahren in seine Grenzen. Schwarze Tränen rinnen über ihre blasse Haut, die Wimperntusche verwischt zu dunklen Rinnsalen. Sie legt den Handspiegel zur Seite, schließt ihre Augen, hält die Luft an. Der Föhnsturm hinter der Stirn wird erst in ein paar Tagen ausbrechen, zuverlässiger als manche Wettervorhersage, Ausnahmezustand bis sich das Nervengift festsetzt und seine Wirkung eintritt, die Falten auseinanderzieht. Zuschauen kann sie wie es geschieht, Verjüngung wie in Filmen, in denen Figuren in frühere Zeitepochen zurückversetzt werden. Pokerface im Job, in der Welt, draußen vor der Tür, überall, der Schutz vor zu viel Einblick in ihre Seele, niemand soll wissen, was sich hinter dieser Stirn verbirgt, wie viel Trauer hinter ihrem Gesicht, ihrem Leben verborgen liegt. Sie hält den Handspiegel hoch, kleine blaurot angelaufene Punkte, Erhöhungen an einigen Stellen, hochschießend, wuchernd im Moment des Betrachtens. Am nächsten Tag ist alles anders, die Stirn glatt und mit ihr die Welt. Marineblau das Kostüm an einem Tag, dunkelgrau am anderen, immer im Wechsel. Sie schaut hinunter auf ihre Mitarbeiter, auch auf die Männer, ihre Körpergröße hat geholfen, schon immer, bei Bewerbungsgesprächen traut man ihr mehr zu als den anderen, ihr breites Kreuz belastbar, das dunkle widerborstige Lockenhaar zum Pferdeschwanz gebunden, die großen Zähne weiß und strahlend, dünner die Sauerstoffzufuhr in luftigen Höhen, aber auch reiner und frischer. Ein kaum künstliches Lächeln zieht sich über ihr Gesicht, ihre Augen bleiben stumpf, ihr Lächeln taut auf und ab, friert ein und taut auf. Ihre Mundwinkel müssten Muskelkater bekommen, aber da ist nichts, zwei dünne Linien mit Hyaluronsäure gut aufgepolstert einziger Hinweis auf eine Mimik.
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