Spielen mit Charlotte, sieben, Förmchen mit lockerem goldenen Sand füllen, wie lange ist das her? Sonntagnachmittage in schwüler Hitze, Windeln gewechselt, Trinkflaschen aufgeschüttelt, Nase gewischt, schattenspendende Bäume gesucht. Feiner Sand, der auf feuchte Kuchen gestreut wird, versinken können, die Ruhe vor der nächsten Woche, wie viele Stunden noch? Samstags lenkt sie das Einkaufen ab, Klavierunterricht für Charlotte, sonntags Anstürme von Tränen beim Erwachen. Sie sieht den nächsten Arbeitstag vor sich, die nächste Arbeitswoche, Berge von Arbeit durch die sie hindurch muss, sie türmen sich auf und vermehren sich über Nacht. Es ist zu viel, alles zu viel, viel zu viel. Sie hat Mann, Job, Kind, Kind, Job, Mann. Was will sie mehr? Sie weint, presst ihre Faust auf die Augen und versucht sich zu beruhigen. Du hast doch alles, was willst du noch? Sie weiß es selbst nicht.
Wie ist sie in all das hineingeraten? Mit Anfang Dreißig heiraten alle um sie herum. Seid ihr alle da? Ja. Wie beim Kasperletheater antworten sie einstimmig mit Ja wie gewünscht. Auf einmal erscheinen auf der Bühne des Lebens Traummänner und Traumfrauen, eine ganze Invasion von Paaren, Hochzeitskarten, Babyfotos überschwemmt sie, das erste, das zweite, das dritte Kind. Wie vom Himmel gefallen, aus den Wolken herab geregnet bevölkern junge Familien die Erde. Rosarot und himmelblau strampeln winzige Füßchen in die Luft, Blubberbläschen auf rosigen Lippen, Babyflaum auf den Köpfen, rundherum wohliges Gebrumme. Niemand stellt sein Handeln infrage, als sei das Aufziehen einer weiteren Generation eine Verpflichtung über die man nicht reden müsse. Erst später taucht sie auf, eine Frage, nur eine einzige, die alles entscheidende Frage. Sie naht wie ein Wirbelsturm, bläht sich auf von allen Seiten, knickt Lebensentwürfe um, bricht langjährige Planungen entzwei, stellt sich allem in den Weg was an Erkenntnissen, Weisheiten, Einsichten angehäuft daliegt: Ist das alles? Sie heiratet spät, aber sie heiratet, sie bekommt ihr Kind spät, aber sie bekommt es. Fast vierzig Jahre ihres Lebens sind schon um als sie beginnt an die Familie zu glauben. Jetzt ist sie da, die Frage, jetzt ist sie auch bei ihr angekommen.
Niemand soll es hören, niemand sehen, sie weint, es weint aus ihr heraus, laut und lästig schluchzt sie wie ein kleines Mädchen. Draußen Schneeflockengestöber vor dem Fenster, wirbelnd, zu rasch, ihr wird schwindlig wenn sie zusieht. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken. Sie muss wieder zurück an ihren Schreibtisch. Am späten Nachmittag gönnt sie sich Aperol Spritz, sie schüttet Campari ins Glas, Soda dazu, nicht der Geschmack ist es, der sie lockt, auch nicht die Wirkung, die Farbe stimmt sie froh, das Orangerot, es leuchtet ihr entgegen. Aura Soma, ihre Regenbogenfarben, Farben der Seele. Während sie die Flüssigkeit in winzigen Schlucken am Gaumen entlang gleiten lässt bricht und bröckelt es an allen Stellen, ihr pudriges Makeup hinterlässt ebenso Spuren am Glas wie der dezent rote Lippenstift. Abends vor dem Spiegel sieht sie wie die Haut sich löst, fahle Schuppen abfallen wie Putz oder Mörtel. Eine Maske löst sich aus Make up Resten und Fetzen abgestorbener Haut. Sie betrachtet das weiße Wattepad mit den bräunlichen Spuren, legt es zur Seite, setzt sich auf den Toilettendeckel und schlägt die Hände vors Gesicht. Ihr Kopf vornübergebeugt, das Haar struppig und vom Färben hart, steht zu beiden Seiten des Kopfes ab, in sich zusammengesunken ihr Körper, federleicht, als zerfalle er zu Staub. Und es wird etwas geschehen, was sie nicht vermutet, etwas, was die Dinge wendet und dreht und wieder dreht und wendet.
Er steigt wie ein Phönix aus der Asche ihres Lebens. Ein jugendlicher Liebhaber mit dunklem Locken, er sieht aus wie er aussehen soll, er tut, was sie will. Glutrote Hoffnung, himmelblaue Augen, die besten Absichten, ein Künstler. Und noch ehe sie begreift was geschieht ist schon alles geschehen, noch ehe sie nachdenkt ist ihr Leben ein undenkbares. Und auf einmal kann sie handeln, der Stillstand gerät aus den Fugen, Aufruhr und Bewegung herrschen, fast hatte sie vergessen wie das aussieht. Buntes Leben, helle Tage, hüpfende Herzen.
Zukunftsmusikalische Einblendung würde Leonardo seinen Einzug bei Justine später nennen, eine Zukunft, die im Alltag zerrinnt, eine umgedrehte Sanduhr, deren Zeitspanne abläuft. Justine, seine Rettung. Komm´ zu uns, das ist einfacher. Ich wünsche mir wieder eine Familie. Das Flehen in ihrer Stimme, das Bitten, wie einsam sie sein musste. Warum nicht, es ändert nichts, es macht nichts. Wenn er den Standort und die Wohnung wechselt wird er wieder am selben Schreibtisch sitzen, denselben Bildschirm anstarren, verzweifelt auf Mails warten, im Internet surfen, den Roman im Nacken wie eine böse Drohung, sein Damoklesschwert. Es wird das immergleiche Leben sein und bleiben, ein ewiges Leben, sein Schriftstellerleben. Niemand darf gezwungen werden, einen Roman zu schreiben, niemand darf zu künstlerischem Ausdruck gezwungen werden, niemand darf gezwungen werden, sich über den Alltag hinaus darzustellen. Er muss sich selbst zwingen, zwingt sich, ohne es zu wollen. Morgens sitzt er vor seinen Figuren, vor einer Geschichte, er sucht einen Anker, den Gefühlsanker, den er auswerfen kann und an den er sich einige Stunden klammert. Ein Halten und Hangeln beginnt, er stürzt ab, er fängt sich wieder, er hält Sätze fest, kleine Abschnitte gelingen, das Ganze ist schwer, das Ganze festzuhalten dazu fehlt der Anker. Sein größter Wunsch wäre ein roter Faden, ein leuchtend roter Faden, ein samtiger flauschiger Geduldsfaden, der seinen Text davontrüge wie ein fliegender Teppich.
Realität interessiert ihn nicht, Alltägliches ist ihm fremd, eine Bedürfniserzeugungsmaschinerie ohne Sinn. Essen, trinken, schlafen, lieben, reden, reisen und wieder reisen, reden, lieben, schlafen, trinken, essen. Am Ende lauert der Tod, lauert allen auf, umschlingt sie, frisst sie auf, ihre Lebensentwürfe, ihre Pläne, ihre Wünsche, am Ende lauert ein Verfall, nichts weiter, am Ende lauert die Auslöschung. Wer schreibt, der bleibt. Eines Tages wird man ihn entdecken, eines Tages wird er reich und berühmt werden, post mortem, eines Tages, vielleicht. Und wie andere von ihren Kindern und Enkeln bewundert werden, werden seine Leser seine Romane und Erzählungen bewundern. Und doch geschehen Dinge in seiner Realität, Veränderungen schleichen sich ein, die Liebe wirft seine Pläne um. Die Realität erlaubt sich auch in seinem Leben Einzug zu halten, sie drängt sich auf und schiebt sich zwischen seine Manuskriptseiten. Leben, brüllt sie ihn an, Leben bitte sehr, jetzt leb` doch endlich mal!
Er muss sie besänftigen, auf sie eingehen, die Realität wird sonst böse, fährt ihre Krallen aus und schlägt ihm ins Gesicht, zerkratzt seine Haut. Soweit darf es nicht kommen, immer ein bisschen Realität beachten, das muss sein, ein bisschen Realität kann nicht schaden. Er lässt sie zu, die Telefonate mit Freunden, die defekten Heizplatten, die Zahnschmerzen, die liebenden Frauen. Tief in seinem Innern schlummert eine Erkenntnis, tief in ihm liegt eine andere Wahrheit begraben, seine Tapetentür zu einer anderen Welt: Wer es schafft in seiner Fantasie zu leben, lebt nicht freiwillig in der Realität.
Das Wohnviertel, in dem er seit Jahren allein in einem winzigen Apartment lebt, weicht zurück. Im Rückspiegel von Justines Firmenwagen werden die Dinge kleiner und kleiner, dunkle Ecken, blassblaue prall gefüllte Müllsäcke am Straßenrand und streunende Hunde mit verklebten Augen, die blind in etwas hinein starren. Konturen lösen sich auf, rissige Farbflecken bleiben, flackern unruhig hin und her bis sie schließlich ganz verschwinden: Er lässt sich fallen und schmiegt sich in die beigen Lederbezüge während sie ihre Hand auf seinem Oberschenkel platziert. Erinnerungsbilder an seine ersten Jahre in der Stadt wirbeln auf, wie letzte blitzartige Einsprengsel aus der Vergangenheit kurz vor einem plötzlichen Tod. Er selbst als junger Mann, fest entschlossen, sich durch nichts abschrecken zu lassen, Künstler zu werden, Lebenskünstler und Schriftsteller, Liebeskünstler und Lebemann. Sein Ziel, die Eroberung der Stadt mithilfe eines noch nicht geschriebenen Bestsellers. Pappkartons, Plastiktüten und Reiserucksäcke lagern in einem Schließfach am Bahnhof, er schlendert mit stone washed Jeans und schwarzem T-Shirt zu seinem ersten Wohnungsbesichtigungstermin bei einer Genossenschaft.
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