Justine la Mour
Paradiesäpfel
Erzählungen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Justine la Mour Paradiesäpfel Erzählungen Dieses ebook wurde erstellt bei
Paradiesäpfel
Böse Männer kommen in den Himmel
Buntes Bild mit blauem Knochen
Lebkuchenherz an smaragdgrünem Satinband
In den Lüften ein blauer Schrei
Netz Haut Ablösung
Anna
Laetizia und Veronique
Land sehen
Du wirst da sein, indem du nicht da bist
Impressum neobooks
Auf der Wiesn, sagst du, da bist du glücklich gewesen, mit glänzenden Augen und roten Wangen, nur das Dirndl hat gefehlt. Damals habe ich gewusst, ich werde gehen, auf der Wiesn werde ich gehen, aber nicht in diesem Jahr, auch nicht im nächsten, sondern erst im übernächsten, dann aber allerspätestens, und ich werde lächelnd durch die glitzernde Menge schreiten auf High Heels von Manolo Blahnik, eine enganliegende glänzend schwarze Lederhose tragen, einen kurzen Rolli und grell geschminkte rote Lippen.
Mein Lächeln wird echt sein, es wird mich über die Wiesn tragen, durch die Straßen, mir den Weg weisen in meine Welt, in die ich an diesem Tag zurückkehren werde. Ich werde wieder zu zweit sein mit meinem Sohn, nur noch diese kleinste Einheit wird es geben, diese Kernzelle, alles andere wird vergessen sein. Unsere gemeinsame Zeit abgelaufen, die Zeit der späten Familie, die nur noch aus Patchworkflicken bestand, deren Nähte sich langsam aufgelöst haben.
Ich werde meinen Sohn an der Hand halten und mich nicht mehr umsehen, eine kleine klebrige Hand in meiner, ein mit Zuckerwatte vollgestopftes Kind mit einem riesigen Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Ich liebe dich“, das nichts versteht und nicht zum Fragen kommt, weil alles so schnell gegangen ist. Er schleckt sich die Reste der Zuckerwatte von den Lippen, zäh, weiß und klebrig wie ein zu dicht gewebtes Spinnennetz, in einer Hand hält er noch einen Paradiesapfel, frisch und glänzend, umhüllt von rotem Guss, der sich so perfekt darüber legt als sei er schon immer mit der Schale verwachsen gewesen.
Wenn er seine Zähne hineingeschlagen haben wird, bekommt der rote Lack die ersten Kratzer, wird mit jedem Bissen weiter abbröckeln und das helle Innere aufzeigen, den viel zu sauren grünen Apfel, den er enttäuscht wegwerfen wird.
Würde er fragen, wohin wir gehen, ich verstünde ihn nicht bei diesem Lärm, das bayerisch-italienische Geraune um mich herum, Pfeifen, Sausen, Kreischen, die Fremdbewegungen fremdgesteuerter Menschen, in die Weißbier, Gaudi und Hochgeschwindigkeitsspaß hineingeschüttet wird, weil sie dafür zahlen. Wenn es hier einen riesigen Bottich gäbe mit der Aufschrift: Leute, hier könnt ihr euer Geld lassen, das würde beruhigen. Einfach einwerfen und nichts mehr tun müssen, vom Paradiesapfel der Erkenntnis ein kleines Stück abbeißen, sich die Lippen lecken und hinausgehen in die Freiheit abseits der Wiesn, schweben, weit fort vom Vergnügungsabfall.
Auf der Wiesn, sagst du, da bist du glücklich gewesen, mit glänzenden Augen und roten Wangen, nur das Dirndl hat gefehlt, und ich denke, das wolltest du so gern, damals, dass ich auch noch dieses Wiesndirndl trage, damit ich genau die bin, die ich in deinen Augen sein soll, für dich sein soll, die ich aber eigentlich weder bin noch sein will noch sein kann. Die Frau an seiner Seite und noch dazu im Dirndl. Und schon lange habe ich gewusst, habe in der Vergangenheit gewusst oder glaubte damals schon gewusst zu haben, dass ich gehen würde, dich verlassen würde, aber noch nicht jetzt, erst später. Und selbst die Vorstellung, das könnte bedeuten, ich sei keineswegs eine emanzipierte Frau, sondern ganz einfach nur ein moralisch schlechter Mensch, ein Charakterschwein, konnte mich schon damals nicht davon abhalten all diese Dinge gedacht zu haben .
Wir sind da, wir sind wir oder wie der Bayer sagt „mir san mir“, die Familie für einen Tag, deine beiden Töchter und mein Sohn, drei Kinder auf der Wiesn, das fällt auf. Wir sind reich, wir sind erfolgreich, wir sind schön.
Die Frau an der Kasse schaut mich an, als habe sie ein schlechtes Gewissen, als könne sie sehen, dass ich unfreiwillig mehr als zwanzig Euro für mich und die Kinder hinlege, um in einem Waggon eingepfercht in eine Wildwasserfahrt hinein zu geraten, die ich gar nicht will. Ihre Haut ist grau und von Falten überzogen wie eine Maske, fast möchte ich sie anfassen, sie würde sicher auf der Stelle zerfallen, Staub von ihr abbröckeln bis nur noch ein Haufen Asche übrigblieb. Ihre Augen streifen mich nur flüchtig, scheu, dann starren sie ins Leere als wären sie blind, sie tastet in einer Schublade und holt einige abgeblätterte Plastikjetons hervor. Viel Spaß tönt es aus ihr heraus, die Stimme blechern und tonlos wie aus einem Automat.
Spaß muss sein, sagst du und klopfst mir auf die Schulter . Die Wagen der Wildwasserrutsche quietschen auf abgefahrenen Gummireifen auf mich zu und bleiben mit einem plötzlichen Ruck stehen, jetzt müssen wir einsteigen, ich will nicht, aber ich muss, ich muss Spaß haben und mich amüsieren, es muss sein.
Wildwasserrutsche fahren ist wie zufälliger Sex mit einem völlig uninteressanten Mann, für den man bezahlt, ohne auch nur den geringsten Spaß daran gehabt zu haben. Als wir hochgezogen werden kreischen die Kinder und klammern sich fest an den eiskalten Griffen, an denen die Farbe abgeblättert ist, ich kneife meine Augen fest zu, so fest, dass es schmerzt, ein Gegendruck, der die Angst übertönt.
Farbreste bleiben an meinen Handinnenflächen hängen, es kratzt, aber ich halte mich fest, jede Lockerung könnte mich hinausschleudern über die Wägen hinaus in die Luft, in all das bunte laute Leben hinein, ich würde fliegen, einmal noch hoch auffliegen und dann endgültig auf dem harten Boden aufprallen, der Wiesn heißt, obwohl kein Rasen darauf wächst, kein einziger noch so winziger Grashalm, nichts.
Abwärts, es geht abwärts, ich spüre wie es uns hinunterpeitscht, Tropfen prasseln auf meine Wangen, hart wie Sandkörner bei einem Wüstensturm, das Geschrei um mich herum, du fasst nach meiner Hand, aber es beruhigt mich nicht. Wie die Hand eines werdenden Vaters während der Geburtswehen, kaum spürbar, eine winzige Geste, die irgendwo weit entfernt stattfindet in einer anderen Sphäre. Schreie wie im Kreissaal, dem Fahrprogramm der Schausteller ausgeliefert wie den Wehen, willenlos fügen wir uns.
Noch einmal und noch einmal, ich zähle die Runden nicht mehr, ich will das Kreischen nicht hören, aber ich kann mir nicht gleichzeitig die Ohren zuhalten und mich an den Griffen festklammern, also muss ich die Schreie der Kinder aushalten, keine Lustschreie, nur Schreie der Angst, die durch die Luft gellen und kaum herausgepresst schon wieder von ihr verschluckt werden.
Als wir aussteigen fasse ich an meinen Hals, der sich rauh und wund anfühlt, wringe meinen Rockzipfel aus, wische über die Augen wie nach einer langen Odyssee durch einen Alptraum. Du siehst mich an, ein wenig Mitleid in den Augenwinkeln, aber auch der Ansatz eines zweideutigen Lächelns, eine kurze Umarmung, aus der ich mich rasch entwinde.
Im nächsten Jahr muss ich mit deiner jüngeren Tochter auf das große Kettenkarussel obwohl ich weiß, sie mag mich nicht und ich weiß, sie weiß, ich weiß, sie mag mich nicht und dennoch fliegen wir zusammen durch die Luft, weil du eine lebende Bierleiche bist und jemand sie begleiten muss. Noch nicht einmal acht Jahre alt ist sie, zum ersten Mal wird mir das klar, wie klein sie noch ist und ihre Eltern schon so viele Jahre getrennt. Achtjährige nur in Begleitung Erwachsener, sie bettelt, du siehst mich an, nein, sage ich, nein, auf keinen Fall, nein, geht gar nicht, aber sie jammert und dann kann ich nicht mehr, also ja. Sie muss Angst haben, ich sehe es an ihren Augen, die unruhig hin- und herflackern.
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