Quasselwelle? Nun, das waren Frequenzen, auf denen seit den 1970er Jahren deutsche Seefunkstellen untereinander kommunizierten. Die meistgenutzte Frequenz war 16.587,1 kHz, alle vier Stunden, von 00:00 Uhr UTC an gerechnet, trafen sich die Sparkys auf dieser Welle zum Klönschnack. Manchmal nur, um zu tratschen. Manchmal auch, um wertvolle Informationen auszutauschen. In diesen Jahren setzten sich die leistungsstarken Sendeanlagen mit Einseitenbandbetrieb flächendeckend durch, problemlos ließen sich auch große Distanzen per Sprechfunk überbrücken. Besonders nützlich wurde die Quasselwelle, wenn man in entlegenen Seegebieten (z. B. Südpazifik) auch mit starken Sendern Schwierigkeiten hatte, nach Norddeichradio durchzukommen. Günstiger positionierte Schiffe übernahmen dann Nachrichten und gaben sie weiter, man half sich gegenseitig.
Und dann habe ich ja nun auch Telex an Bord. Gibt’s 1978 weiß Gott nicht auf jedem Kahn. Die Verkehrsabwicklung ist noch etwas umständlich, ich rufe zunächst Norddeich erst mal im Telegrafie-Betrieb und melde das Telex an. Nach entsprechendem Frequenzwechsel ruft mich dann die Küstenfunkstelle im Fernschreib-Modus, der Sender beginnt in der Slave-Funktion zu arbeiten. Das Fernschreiben habe ich bereits auf einem Lochstreifen vorgefertigt und starte die Übermittlung. Feine Sache, auch größeres Textvolumen geht nun problemlos über den Äther. Lohnt sich ohnehin nur bei längeren Botschaften, Telexe werden nach Zeit abgerechnet, Telegramme nach Anzahl der Wörter. Aber ein gewisser Prozentsatz des Nachrichtenaufkommens läuft nun über den Fernschreiber, die Morsetaste wurde nicht mehr bei jeder Message verwendet. Und dieses Verfahren sollte in den folgenden Jahren immer mehr ausgebaut werden, in den Achtzigern wurde auch die Verbindungsaufnahme automatisiert. Das Ende der Morsetelegrafie zog langsam, aber stetig, am Horizont herauf.
Eines Nachmittags schalte ich mich auf die Quasselwelle: „Delta Alpha Alpha Delta, hier ist die PROPONTIS, Delta Alpha Delta Yankee, war schon mal einer in Lower Buchanan?“ DAAD war der allgemeine Sammelanfruf für alle deutschen Schiffe, DADY war das Unterscheidungssignal der PROPONTIS, mein Rufzeichen.
Und schon antwortet ein Kollege, Funker auf einem Bulkie der Flensburger Reederei Jakob. „War letztes Jahr dort, was wollen Sie denn wissen, Herr Kollege?“ – „Wie sieht’s denn da mit der Einklarierung aus, gibt’s irgendwas zu beachten, das vom Standard abweicht?“ – „Nun ja, das ist halt afrikanischer Standard. Die sind korrupt bis auf die Knochen, die schleppen an Präsenten von Bord, was sie kriegen können. Und die Beamten sind auch noch arrogant bis zum Geht nicht mehr. Gib so `nem schwatten Deibel `ne Uniform, und du findest den nich` wieder, so hoch schwebt der über dir rum!“ Na ja, hätte ich mir denken können, generell gab es bei der Seefahrt die Theorie, dass mit den landestypischen Temperaturen auch die Korruption steigt. Durch zahlreiche Reisen nach Zentralamerika bin ich auf diesem Gebiet schon ziemlich abgehärtet.
In den beiden Wochen der Rotterdamer Liegezeit und den vergangenen Tagen auf See hatte auch die zum größten Teil neue Crew zueinander gefunden. Schon einen Tag nach Auslaufen steht der Alte in der Tür der Funkbude, zwei Buddels Holstenbier in der Hand. „So, Funker, nu` machen wir ma` `ne kleine Dienstbesprechung!“ Wir lenzen die Buddels und schnacken. Und zwar über alles Mögliche, aber nix Dienstliches. Mit dem war ein gutes Auskommen, das roch ich.
Dann ist da der Chief. Leiter des Maschinenbetriebes, gut über 60 Jahre alt und über alle Probleme dieser Welt erhaben. Die Ruhe in Person. „Ich seh` die Rente schon an der Kimm, was soll mich noch jucken?“ ist eines seiner Lieblings-Bonmots.
Auf diesem Kahn haben sie keinen Storekeeper, sondern einen SBM. Steht für Schiffsbetriebsmeister, aber im Prinzip füllt er die Rolle des „Stories“ aus. Der stammt aus der Gegend von Stuttgart und stellte sich selbst als „Norbert, Edler von Schwaben“ vor. Selbsternannter Landadel gewissermaßen. Ja, und irgendwie ergibt sich schon nach kurzer Zeit, dass dieser Personenkreis, also der Alte, der Chief, der SBM und meine Wenigkeit so alle zwei Tage mal zu `ner abendlichen Arbeitssitzung zusammentreffen. Bier auf der Back, und dann wird fröhlich drauf los gelabert. Jedes Thema erlaubt, nur nix dienstliches.
Der Alte ist ein Geschichtsexperte. Nicht Geschichten, sondern Geschichte. Südlich der Biskaya waren wir schon mit den Staufern durch, westlich Gibraltar beschäftigten wir uns mit den Hunnenfeldzügen, und jetzt sind gerade die Merowinger dran. Total verblüfft war ich, als ich ihm einmal von der alten, aus der Zeit der Karolinger stammenden Basilika erzählte, die sich in meinem Odenwälder Heimatort befindet. „Kenn ich!“, war die Antwort. Und dann schilderte er das Bauwerk so detailliert, als ob der den Bauplan gezeichnet hätte.
Das elende Gerolle endet mit dem Erreichen wärmerer Gewässer. Auf unserem Weg nach Süden passieren wir die Kanaren. An Backbord die Küste Marokkos. Später zur gleichen Seite Mauretanien. Ruhige See, Sonnenschein von „Sunrise“ bis „Sunset“. Und ich habe noch einen unschlagbaren Vorteil gegenüber der kompletten restlichen Crew. Direkt neben meiner Funkbude führt eine Tür aufs Palaverdeck und geradewegs zum Swimmingpool. Und auf diesem Schiff trägt der seinen Namen zu Recht, in dem Ding kann man schon ein paar Schwimmzüge machen, bevor man wieder am Beckenrand landet. Auf den Kühlschiffen hatten wir da eher so `ne Art modifiziertes Fußwaschbecken. Ich habe also ein Appartement mit Pool im Garten. Oder so ähnlich.
In der Nähe der Kanaren leiste ich mir einen eklatanten Verstoß gegen die Funkvorschriften. Und zwar mit Ansage. Gunter, einer meiner alten Kumpels zuhause, ist schon seit vielen Jahren als Funkamateur aktiv. Im letzten Urlaub nach einigen Bieren haben wir beschlossen, irgendwann mal einen Funkkontakt, ein so genanntes QSO, zwischen Schiff und Amateurfunkstelle zu fahren. Das ist verboten, Seefunkstellen dürfen nur in den für den Seefunk vorgesehenen Frequenzbereichen und nur mit am Seefunk beteiligten Stationen kommunizieren. Das Gleiche gilt sinngemäß für Amateurstationen. Unsere Empfänger sind aber durchstimmbar, ich verwende ein sonst nirgendwo verwendetes Phantasie-Rufzeichen und eine freie Arbeitsfrequenz im 16-MHz-Band. Gunter arbeitet im nahe liegenden Amateurband. Den Zeitpunkt kündige ich durch ein kurzes verschleiertesTelegramm via Norddeichradio an.
Und dann fetzen wir auf der Taste los, die Verständigung ist gut und in Gunters Radio-Shack hocken etliche meiner Spezis und folgen der Veranstaltung mit großen Augen. Vorschriften sind auch dazu da, dass man sie gelegentlich mal ignoriert. Oder?
Mauretanien haben wir gerade hinter uns gelassen, irgendwo hinter der Kimm ist der Senegal, da legt uns der Decksschlosser ein dickes Ei. Vielmehr legt er sich selbst eins. Es ist Sonntag, Teile der Decksgang sind zur Arbeit eingeteilt. Sind prima zuschlagspflichtige Überstunden und daher sehr beliebt. Man nennt das „Zutörnen“. Timmi, wie der Schlosser traditionell genannt wird, hat sich aber am Samstagabend gewaltig einen geballert. So richtig bis „Land unter“. Zur Arbeitseinteilung am Sonntagmorgen tritt er zwar an, kann allerdings kaum aus den Augen gucken. Sieht aus wie ein frisch gevögeltes Eichhörnchen. Tja, und dann ist er verschwunden. Irgendwann wird er aber vermisst, alle Mann suchen Timmi. Keine Spur von dem Typen, der ganze Dampfer wird abgegrast. No Timmi in sight. Die Fahndung geht weiter, völlig ergebnislos. Jetzt ist der Alte aber auf höchster Alarmstufe, alles deutet darauf hin, dass Timmi in seinem Suff über die Kante gegangen ist. Mann über Bord, so mit das Übelste, was einem Seemann zustoßen kann. Der Chiefmate kreuzt bei mir auf, in Kürze wird man wenden und mit der Suche beginnen. Und für mich heißt das, dass nun eine Dringlichkeitsmeldung zu senden ist. Auf der Not- und Anruffrequenz 500 kHz erfolgt dann ein Funkspruch etwa mit dem Inhalt: XXX XXX XXX DE DADY DADY DADY MV/PROPONTIS/ DADY REPORT MAN OVERBOARD BETWEEN POS ………… AND POS …….SHIPS IN VICINITY PLS KEEP SHARP LOOKOUT AND ASSIST IF POSSIBLE. Die vor dem Funkspruch gesendete Dreiergruppe XXX signalisiert höchste Dringlichkeitsstufe unterhalb eines SOS. Schiffe in der Umgebung würden sich der Suche anschließen, unter Umständen über einen längeren Zeitraum. Erst, wenn nach menschlichem Ermessen kein Überleben mehr möglich ist, würde man die Suchaktion abbrechen. Na bravo, jetzt war dicke Luft im Karton.
Читать дальше