Als sie dann feststellten, dass die Insel keinerlei Bodenschätze oder irgend etwas von Wert für sie enthielt, verloren sie das Interesse an dem Eiland.
Dann fanden sich einzelne Menschen, Versprengte, Verfolgte und Suchende, die mit der Zustimmung der Zwerge über die Brücke schritten und sich auf der Insel ansiedelten. Da die Zwerge nicht gerne Fremde unbewacht in ihrem Rücken hatten, errichteten sie eine Festung, die Tag und Nacht die Brücke kontrollierte.
Eine Zeitlang gab es spärlichen Handel zwischen den Zwergen und der Insel. Doch insgesamt nahm niemand auf Iskandrien wirklich Kenntnis von der Existenz dieser Kolonie.
Es war eine karge, armselige Zeit mit vielen Entbehrungen. Doch diese Zeit zählte für Siegoin nicht mehr, es gab nur noch das Zeitalter des Monolithen.
Wenn er versuchte, sich an seine erste Annäherung an den Monolithen zu erinnern, spürte er die widerstreitenden Gefühle von tiefer Furcht und starkem Sehnen. Zögernd, doch mit immer stärker werdendem Wollen hatte er sich dem Stein genähert. Die pulsierende Oberfläche hatte ihn neugierig gemacht. Er spürte ein nicht erklärbares Unwohlsein und gleichzeitig eine Gier nach etwas Neuem, Unbekanntem. Woher der Stein kam, war dem jungen Mann völlig unklar. Er war schon häufiger an dieser Stelle des Waldes, doch diesen seltsamen Stein hatte er noch nie gesehen.
Der Moment als er die Hand auf den Monolithen legte, hatte sich unauslöschbar in sein Gehirn geprägt. Unfassbare Gefühle waren auf ihn eingeströmt. Macht, Glück, Tod, Wollen, tiefe Sehnsucht, dies alles war über ihn herein gebrochen, hatte ihn auf der Stelle in die Knie gezwungen. Eine innere Stimme schrie, er solle die Hand zurückziehen. Eine andere, viel stärkere befahl ihm, den Kontakt zu halten. Er hielt.
Wie lange wusste er hinterher nicht. Waren es Stunden oder Tage. Egal, alles war egal. Wichtig war nur die Macht, die ihn durchströmte. Dunkel, kraftvoll, auf der Suche nach Tod. Diese Macht musste er jetzt sofort ausprobieren, dass forderte sie von ihm. An einem lebenden oder toten Wesen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Pflanzen rund um den Monolith tot waren, in verschiedenen Stadien des Zerfalls.
Auch Tiere entdeckte er nicht, in der näheren Umgebung.
Mühsam richtete er sich auf und stolperte auf steifen Beinen in den Wald hinein. Nach mehreren Schritten entdeckte er einen kleinen Hasen, der ihn unverwandt ansah.
Als Siegoin einen weiteren Schritt machte, zog der Hase die Ohren ein und machte sich sprungbereit. Der Mann zögerte, dann fixierte er den Hasen mit festem Blick. Er wusste in diesem Moment noch nicht, dass seine Augen ihre natürliche Farbe verloren hatten und intensiv rot leuchteten. Der Hase erstarrte, sein Körper zuckte, doch seine Augen konnten sich dem brennenden Blick nicht entziehen.
Die Gier in Siegoin, dem kleinen Körper seine Lebenskraft zu entziehen, ließ das Blut in seinen Ohren rauschen. So überhörte er auch das Knacken eines Astes und das Schwirren eines Knüppels. Der Schlag traf ihn am Kopf und mit einem Ächzen brach der Neunekromant zusammen.
Als er wieder zu sich kam, saß er auf einem Bärenfell, den Rücken an eine Höhlenwand gelehnt. Es herrschte ein düsteres Zwielicht, drei rot leuchtende Augenpaare waren auf Siegoin gerichtet.
Seltsamerweise verspürte er keine Furcht, sondern vielmehr das Gefühl nach Hause gekommen zu sein. Ein Augenpaar rückte näher und aus der Dunkelheit schälte sich ein Gesicht, dass Siegoin bekannt vorkam.
„Brenok!“ Siegoin erkannte den Mann, der vor einiger Zeit sein Dorf verlassen hatte und nie wieder zurückgekehrt war.
„Ja Siegoin. Du hast mich erkannt und wir erkennen dich als einen von uns. Der Stein hat dich genommen.“
Eine immer schwächer werdende innere Stimme schrie, dass Siegoin entsetzt, verängstigt, auf der Hut sein müsste. Woran er Brenok erkannt hatte, war ihm gar nicht klar. Das Gesicht des Dorfbewohners war eingefallen, die Hand, die er auf Siegoins Arm legte knochig, staubtrocken und kalt. Die Augen glühten rot, mit einer erschreckenden Intensität.
Doch Siegoin fühlte sich von all dem nicht abgestoßen. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen einer tiefen Zufriedenheit und einer nie gekannten Sehnsucht.
„Wir wissen auch, was du jetzt brauchst. Mehr als alles Andere.“
Mit diesen Worten stülpte er einen Sack um, der neben ihm gelegen hatte. Heraus fiel der Hase, den Siegoin fixiert hatte, als ihn der Knüppel traf.
Die Sehnsucht wurde immer stärker, der Wusch Lebenskraft zu entziehen, in sich aufzunehmen.
Ohne weiter darüber nachzudenken, packte Siegoin den Hasen mit beiden Händen, sah ihn an und murmelte leise fremdartige Worte, die er noch nie zuvor in seinem Leben gehört oder gesprochen hatte. Innerhalb von wenigen Augenblicken verlor das Fell des Hasen seinen Glanz, der Körper schrumpfte zusammen und die Augen wurden stumpf.
Siegoin fühlte sich wie losgelöst von seinem Körper, als würde er sich selber über die Schulter blicken.
Er sah, wie der Hase seine Lebenskraft verlor, aber ohne zu sterben. Als der Nekromant den Hasen wieder absetzte, bleib das Tier reglos stehen und starrte aus blicklosen Augen in die Welt.
Mit einem Gedankenbefehl forderte Siegoin das Tier auf, einen Schritt zu tun. Steifbeinig kam der Hase dem nach. Er ließ ihn eine Runde durch die Höhle staksen. Dann befahl Siegoin dem Hasen, sich auf die schwach glimmenden Holzstücke der Feuerstelle zu setzen. Auch dieser Aufforderung kann der Hase mit langsamen Bewegungen nach. Die Glut des Feuers griff nach dem trockenen Fell des Hasen, flammte auf, bis der Hase lichterloh brannte. Fasziniert beobachtete Siegoin, wie das Tier von den Flammen verzehrt wurde, ohne einen Fluchtversuch zu unternehmen. Erst als die Flammen erloschen, gelang es dem Nekromanten, seinen Blick zu lösen.
Ein leises trockenes Klatschen erklang.
„Sehr gut.“ Brenoks Stimme war flach und freudlos.
„Das war ein guter Anfang. Jetzt wenden wir uns größeren Aufgaben zu.“
Siegoin nickte ins Dunkel. Er war jetzt zu allem bereit, auch wenn er mit Bedauern festgestellt hatte, dass der Lebensentzug ihm nicht die erhoffte Befriedigung gebracht hatte. Es war, als wäre ein riesengroßes Loch in seinem Inneren, das von der Lebenskraft des Hasen nur zu einem verschwindend geringen Teil gefüllt worden war. Noch immer zerrte ein inneres Bedürfnis an ihm.
„Irgendetwas fehlt mir. Warum bin ich nicht … glücklich?“
Siegoins Stimme war rau und heiser.
„Weil das nur ein erster Schritt war. Erst wenn alle um uns herum so sind wie wir, dann sind wir zufrieden. Was glaubst du, warum die Völker auf Iskandrien sich bekämpft haben? Warum sie aus der Not heraus den Weg wählten, dass jeder sein Gebiet behält? Und warum diese Insel ein Fass voller Welfernbrunst ist, das nur entzündet werden muss. Es liegt in der Natur der denkenden Wesen, dass sie nur zufrieden sind, wenn alle um sie herum so sind wie sie selber. Also machen wir Iskandrien zu unserem Reich.“
Langsam, zögernd hatte Siegoin genickt. Ja, das war der Weg, den es zu gehen galt. Hier, in dieser Höhle entstand eine neue Macht, die Iskandrien in ihren Bann zwingen würde. Die Macht des Monolithen.
Die kleine vorgelagerte Insel wurde zu einem Ort des Schreckens und der Finsternis. Immer mehr Untote und Nekromanten tauchten auf der Insel auf, immer mehr Siedler verschwanden. Aufgebrachte Bewohner der winzigen Siedlungen verfolgten grau gewandete Gestalten, die ihre Freunde und Familienmitglieder in Untote verwandelt hatten. Sie wurden zum Monolithen gelockt, wo die furchtbare Macht des Steins ihre Wirkung entfaltete. Die Armee der Nekromanten gewann neue Streiter.
Die kleine Insel war das letzte Überbleibsel eines Abbruchs von der Hauptinsel Iskandrien.
Bewacht nur von der Festung der Zwerge, einer kleinen mit nicht einmal einem Dutzend Zwergen bemannten Enklave.
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