Sie entschuldigte sich kurz bei ihren gegenwärtigen Gesprächspartnern und bewegte ihre auf verborgenen Absatzschuhen deutlich über einen Meter siebzig messende weiblich-schlanke Figur mit einem sinnlich lachenden Mund sogleich auf Freysing zu, der, ohne ihre vorherigen Worte dort durch den Saal hindurch verstehen zu können, selbst etwas sprachlos angesichts ihrer faszinierenden Erscheinung am Eingang des Saales innegehalten hatte. Dabei rauschte sie wie eine Fee zur Musik herbei, während die anwesenden Gäste ihr bewundernd höflich Platz bereiteten.
„ Gernot , mein lieber!“, begrüßte sie ihn, dann vor ihm stehend, nahm ihn in die Arme wie einen guten alten Freund und gab ihm links und rechts einen Wangenkuss, dass er achtgeben musste, die Blumen und das Geschenk nicht zu zerdrücken, welche er in seinen Händen hielt. Sax genoß kurz den Geruch ihrer Nähe und ihres Parfums.
Er strengte sich sogleich an, umzuschalten, denn hier war er nicht Günter Freysing, sondern Gernot Flöter ! Das war die Identität, die er im Zivilleben führte, bis er die Diensträume des BND betrat oder auf eine wichtige Mission geschickt wurde. Beides waren natürlich nicht irgendwelche Namen, unter denen er vor fünfundvierzig Jahren in einem kleinen Städtchen des brandenburgischen Fläming geboren wurde, bevor ihn der damals noch „westdeutsche“ Geheimdienst Ende der 1980er Jahre in Leipzig anwarb.
„Susanne!... - ich möchte dir von ganzem Herzen gratulieren!“, erwiederte er mit trockenem Mund, beinahe etwas steif. Sie löste sich von ihm und er hielt ihr etwas ratlos Blumen und Geschenk entgegen. Ein Page kam auf eine kurze Kopfbewegung ihrerseits hin eilig herbei und nahm ihr die sogleich angenommenen Gegenstände wieder ab, um die Blumen in einer großen Vase mit Wasser neben einer Vielzahl anderer an einer Wand des Saales abzustellen. Das Präsent fand seinen Platz auf einem ausladenden Tisch, der über und über mit traditionell unausgepackten dezent farbigen Päckchen oder größeren offenen Gegenständen bedeckt war.
Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, als Susanne ihren Arm in den seinen einhakte, ihn durch den Saal führte und sie die üblichen Belanglosigkeiten zum Wiedersehen austauschten, als sei dieses hier ein ganz gewöhnlicher Anlass. Zuweilen stellte sie ihm den einen oder anderen der Anwesenden mit einem kurzen Nicken vor, ohne diese direkt anzusprechen, bis sie vor einer gemischten Fünfergruppe stehen blieben, die etwa in der linken Mitte des Saales beieinander stand und in ein angeregtes Gespräch vertieft war. Als sie sich mit ihm näherte, klang deren Unterhaltung ab, und man blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. Sie hakte sich bei Sax aus und begann, dann jeweils mit ihrer immer noch zarten Hand auf die einzelnen Personen deutend:
„Darf ich vorstellen, mein mir frisch angetrauter Bräutigam, Maximilian Haff Graf von Vogelsang-Warsin, sein Bruder Jürgen und seine Schwester Heidrun - meinen Onkel Hermann und Tante Gertrude kennst du ja vielleicht noch.“ - Sie blickte zu Sax und fügte hinzu: „Das hier ist mein sehr guter alter Freund, Gernot Flöter.“
Onkel und Tante von Susanne hatte Freysing im zweiten oder dritten Jahr seiner Beziehung mit ihr auf einer dieser unvermeidlichen Familienfeiern kennengelernt, zu der sie ihn damals mitschleppte. Sie waren beide deutlich älter geworden, inzwischen vielleicht Ende sechzig; der derweil fast kahlköpfig gewordene Onkel noch etwas untersetzter als damals und die Tante mit leicht eingefärbtem dunkelbraunem Haar beinahe schon dick. Sie platzten ein wenig aus ihrer festlichen Bekleidung.
Die Geschwister des Grafen kannte Sax nicht persönlich: Der Bruder wirkte jünger als der Graf selbst, ebenso wie die vielleicht dreißigjährige Schwester, die überhaupt erst wenige Jahre vor der „Wende“ das Licht der Welt erblickt haben mochte. Sie war das typische „Nesthäkchen“, das sich, spät geboren, immer gegen ihre älteren Brüder hatte durchsetzen müssen und dabei eine unverholen verbissene verbale Agressivität entwickelte. Wenn sie sprach, wirkte es immer streitlustig und ernst. Beide trugen eine schon fast plumpe, hochnäsige Neo-Aristokratie zur Schau, die sogenannt bürgerliche oft ausstrahlen, wenn sie unverhofft zu Geld und Ansehen gelangt sind. Dabei besaßen sie gar keinen Anspruch auf irgendeinen Titel; bei den Ländereien war es aber anders gewesen und sie hatten an den jahrelangen Bemühungen ihres älteren Bruders nicht unerheblich finanziell partizipiert. Den erlangten Reichtum zeigten sie nun mit fast protzigem Schmuck herum. Man sah ihnen allen die direkte Verwandtschaft an; die Ähnlichkeit der Gesichtszüge war unverkennbar: Alter Vorpommerscher Landadel… !
Sie gaben sich nacheinander die Hände beinahe in der Reihenfolge der Vorstellung, und Freysing spürte zuerst den festen, ehrlichen Händedruck des Mannes, den Susanne jetzt den ihren nennen durfte. Maximilian Haff Graf von Vogelsang-Warsin war laut den Daten, die Freysing zur Kenntnis gelangt waren, gegenwärtig sechsunddreißig Jahre alt, erschien jedoch in natura etwas älter. Seine im Übrigen volle, streng glatt nach hinten gekämmte dunkle Haartracht wies an den Ansätzen bereits etwas grau auf, und Geheimratsecken begannen sich zu bilden. Er trug keinen Bart, aber dafür die Andeutung von Koteletten, so wie dies vielleicht in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einmal Mode gewesen sein mochte.
Sein noch leicht vom vergangenen Sommer gebräuntes Gesicht wirkte offen und freundlich und strahlte im Unterschied zu denen seiner Geschwister sofort eine enorme Sympathie für sein Gegenüber aus, so als würde er sich tatsächlich sehr freuen, einen alten Freund Susannes persönlich kennenzulernen. Der Graf war nicht massig oder füllig, wirkte vielmehr sportlich, aber nicht übermäßig muskulös.
Freysing mochte diesen Menschen sogleich recht gut leiden, der einen edelfeinen, maßgeschneiderten blauschwarz glänzenden Hochzeitssmoking und am Mittelfinger der rechten Hand einen schweren Siegelring mit dem Wappen derer zu Vogelsang-Warsin trug. Eine Sekunde lang blickten sie einander abschätzend fest in die Augen. Wer wusste hier wohl mehr vom anderen? Er, Freysing, aus den Datenbanken des Bundesnachrichtendienstes oder Max Graf von Vogelsang-Warsin aus den Erzählungen von Susanne? - Sie hatte hier sicher eine gute Wahl getroffen; und er freute sich sogleich mit ihr. Max´ Stimme war überraschend tief und dunkel, gleichsam für sich einnehmend, als er schließlich mit Freysing sprach.
„Meine Braut hat mir ja einiges von ihnen erzählt.“, gestand er dann auch mit einem sehr freundlichen Lächeln, das verriet, das er wohl genau wusste, wie intim Freysing und Susanne einmal gewesen waren. Diese ließ sie nun lächelnd allein, um sich anderen Gästen zu widmen, und während die weiteren aus der familiären Runde sich ebenfalls bald im Saal verstreuten, setzten die beiden ihre ruhige Unterhaltung fort.
Sie drehte sich zunächst um die Herkunft des Grafen, seinen zurückerhaltenen Besitz in Vorpommern und den jahrelangen Streit, den er darüber mit der Bundesregierung und dem neuen Land Mecklenburg-Vorpommern geführt hatte; sodann um seine wirtschaftlichen Erfolge und Misserfolge in Kurzform. Die Stationen seines Lebens stimmten bis in die Details hinein mit dem überein, was Freysing im Vorfeld herausbekommen hatte; der Triumph von Susannes Gatten über den Gewinn des jahrelangen Rechtsstreites wegen der Ländereien war unüberhörbar.
Dann versuchte der Graf selbst einiges mehr über Freysing zu erfahren, welcher ihm im groben genau dieselbe Legende auftischte, die auch bereits in seiner Zeit mit Susanne sein wahres Ich getarnt hatte. Sie war ihm derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass er niemals Probleme bekam, sie flüssig mit eingestreuten Details zu erzählen, wobei es nie so klang, als sei es auswendig gelernt.
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