Nach einer Stunde war das Wrack auf den mitgebrachten LKW verladen und die ganze Aufregung vorbei. Nur die Furche im Feld erinnerte an den Absturz. Peter St. Giles dachte an die schöne rothaarige Frau, als er endlich in den trockenen Schweinestall schlurfte. Verdammter Regen. Welche Verschwendung, dachte er. Verdammter Krieg.
*
Fulton und Ellmann erreichten gegen Mittag die Filiale des MI5 in Norwich. Unterwegs hatten sie das Wrack zu einem Stützpunkt der Royal Airforce ganz in der Nähe gebracht. Die Leiche des Mädchens wurde in einen Sanitätswagen umgebettet, der ihnen folgte, als sie auf den Hof ihrer Dienststelle einbogen.
Fulton ließ den Gerichtsmediziner die Leiche begutachten. Dieser stellte Genickbruch als Todesursache fest. Anschließend entkleidete man sie und Ellman schoss ein paar Fotos, die eine spätere Identifizierung möglich machen sollten. Wenn diese denn gefordert wurde. Wenn überhaupt jemals irgendjemand nach der Frau fragen würde. Zum Schluss der Autopsie zog ihr Fulton einen kleinen silbernen Ring vom Finger.
Etwas selbstherrlich, wie Ellman fand, erklärte Fulton das Mädchen schließlich zu einem Flüchtling. Vielleicht aus Holland oder Belgien. Das Flugzeug hatte sie, wer weiß wie, an sich gebracht. Wahrscheinlich eine Gelegenheitsflucht. Mehr nicht. Ellmann fragte Fulton nach der Schachtel, die sich nach eingehender Begutachtung als Bleibox herausgestellt hatte, und dem faustgroßen, gelblichen Brocken darin. Zufall, meinte Fulton. Vielleicht war ein ehemaliger Besitzer des Flugzeugs Mineraliensammler oder so etwas gewesen. Der kleine Kasten aus Blei samt Inhalt lag wahrscheinlich zufällig im Cockpit. Wer weiß, wer ihn da verstaut hatte? Oder vielleicht war es ein Erinnerungsstück an Oma, Mama, Papa oder wen auch immer. Auf jeden Fall nichts Besonderes, meinte Fulton und schloss den Bericht für London ab.
Am nächsten Tag wurde das Mädchen aus dem Flugzeug dem örtlichen Bestatter übergeben. Der Blechkasten wanderte zusammen mit dem Stein, dem Ring und der viel zu großen Fliegerkombination des Mädchens in die Asservatenkammer des Gerichtsgebäudes von Norwich.
Fulton ließ Ellmann seinen Bericht sauber abtippen, in dem die Schachtel unerwähnt blieb, so unwichtig schien sie zu sein.
Am Ende der Woche schickten sie dann die wöchentlichen Berichte in einem versiegelten Koffer nach London zur Hauptzentrale im Thames House. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Das Mädchen wurde nahe dem kleinen Friedhof in Norwich beigesetzt. Der Priester weigerte sich zuerst, denn es könnte sich ja um eine Jüdin oder Katholikin handeln. Aber Fulton erfand irgendeinen Hinweis, der dem Priester die Beerdigung gestattete. Auf dem schmucklosen Holzkreuz stand nur das Sterbedatum:
Unbekanntes Mädchen. 1. Juni 1944.
Das war alles.
Im Dunst des frühen Morgens setzte eine schwarz gestrichene dreimotorige Ju 52 wie ein schwarzer Schatten mit weit ausgebreiteten Schwingen zur Landung auf dem kleinen Insel-Flugplatz an. Nach dem Sturm der vergangenen Nacht fegten noch immer böige Scherwinde über die Piste und ließen die Maschine während des Anfluges beträchtlich schaukeln.
Die Lackierung des Flugzeugs war seltsam. Das matte Schwarz betraf das ganze Flugzeug: Die Verkleidung der Motoren, das Fahrwerk, selbst die Scheiben schienen nicht zu reflektieren. Auf dem Leitwerk trug es ein leuchtend weißes Hakenkreuz mit einem mittig drüber platzierten Totenkopf. Gut sichtbar in all dem dominierenden Schwarz. Auf den Tragflächen fehlte das übliche Balkenkreuz und die Kennzeichen der Wehrmacht, stattdessen trug es nur eine SS-Rune auf dem rechten Flügel.
Mit einem kurzen Quietschen setzte das Flugzeug auf der Betonpiste auf. Am Ende der Landebahn wendete es und rollte auf das kleine Steingebäude der Flugplatz-Kommandantur zu. Dort bremste es abrupt ab und das donnernde Geräusch der Motoren erstarb. Eine Tür an der hinteren Rumpfseite wurde mit einem Ruck aufgestoßen, und über eine herunter geklappte Treppe traten zwei Männer in langen schwarzen Ledermänteln und grauen Filzhüten auf das Flugfeld. Gefolgt von fünf Soldaten in schwarzen SS-Uniformen, bewaffnet mit Maschinenpistolen.
Das Schwarz der Maschine, die schwarzen Mäntel und Uniformen der Männer; das alles hatte den Beigeschmack einer dunklen Vorahnung und Inselkommandant Leuschwitz, der, im Windschatten der Kommandantur stehend, die Ankunft verfolgt hatte, fühlte sich unwohl. Er war über die Ankunft des Flugzeugs informiert worden. Ein Sonderflug, direkt aus der Reichshauptstadt. Ein Grund für den Besuch der Gestapo aber war ihm nicht mitgeteilt worden. Beklommen betrachtete er die bedrohliche Ansammlung schwarzer Uniformen, die ihm gegenüber in einem Halbkreis Aufstellung nahmen. Zwei Männer in Zivil standen in der Mitte.
Der Inselkommandant schluckte kurz und hart, riss die Hand zum Hitlergruß in die Luft und schmetterte: „Heil Hitler! Leuschwitz! Ich meine, Major Leuschwitz, der Inselkommandant. Ich begrüße sie auf Borkum, Herr ...“. Leuschwitz blickte die beiden Männer in Zivil fragend an und wartete darauf, das die Angesprochenen ihre Namen ergänzten.
„Kriminalkommissar Skorni, und das ist Kriminalassistent Radke“, antwortete blechern der Ältere, der ihm aufgrund seiner schmächtigen Statur vorkam wie ein Ringrichter inmitten einer Horde Schwergewichtsboxer. Kommissar Skorni zog mit einer beiläufigen Geste eine ovale Marke aus der Tasche seines steifen Ledermantels und hielt sie Leuschwitz unter die Nase. Der schielte auf die eingravierte Schrift und musterte anschließend wieder nervös die beiden Männer. Betont entspannt versuchte er sich in Konversation. „Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, meine Herren. Ich habe ein gutes friesisches Frühstück für Sie vorbereitet.“
Der Kommissar blickte ihn fragend an. Er hatte schwarze, seltsam glatte Haare, die eine hohe Stirn frei ließen und durch reichlich Brisk wie Schellack glänzten. Dazu kamen weit auseinander stehende, leicht hervor quellende Augen mit darüberliegenden V-förmigen dünnen Brauen, die auf eine spitze, leicht gebogene Nase deuteten. Augen und Brauen gaben dem Gesicht ein merkwürdig maskenhaftes Aussehen, das durch die schwarz glänzenden Haare noch unterstrichen wurde. Ein voller Mund bildete den fast beiläufigen Abschluss im blassen, länglichen Oval des Gesichts. Blechern, dachte Leuschwitz. Irgendwie metallisch, der Mann. Insgesamt wirkte dieser Kommissar wie ein Automantenwesen aus Metropolis. Unwillkürlich suchte Leuschwitz an seinem Gegenüber ein Stromkabel.
Sein Begleiter dagegen war ein grobschlächtiger Klotz. Gut einen Kopf größer als sein Vorgesetzter besaß er ein breites, kantiges Gesicht mit einem Unterkiefer wie eine Baggerschaufel. Mehr gab es über ihn nicht zu sagen. Machte Skornis Blick einen intelligenten, wenn auch durchtriebenen Eindruck, so war der Blick seines Assistenten nichtssagend und leer, grob, gewöhnlich. Man sah ihm an, dass er das Denken seinem Vorgesetzten überließ.
Skorni schien an einem friesischen Frühstück nicht besonders interessiert. Ungeduldig winkte er ab. „Herr Leutnant, leider haben wir keine Zeit für Nettigkeiten. Sie wurden von unserem Kommen unterrichtet. Ich würde gern meinen Befehlen nachkommen. Und das unverzüglich!“
„Natürlich. Ich dachte nur ...“ Leuschwitz fühlte sich überfahren und dieser Skorni unterbrach ihn einfach so.
„Befindet sich die Nachrichtenhelferin Frauke Hiller in ihrer Flugabwehr-Abteilung?“
Leuschwitz' Gesicht wurde fahl. Er schien plötzlich geistesabwesend.
„Major Leuschwitz? ...“ Der Kommissar war einen Schritt näher getreten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. „ ... alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Ähm ja, Herr Kommissar. Die Hiller ist ... sie ist hier als ... als Funkerin beschäftigt. Vor einem Monat ist sie uns zugeteilt worden. Intelligentes Mädchen ...“
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