Der Kontakt der Menschen zur Welt ist heute weitgehend kein direkter mehr sondern ein vermittelter. Er ist vermittelt durch Zeitungen, Medien, Meinungen, Ansichten, durch Wissenschaften und Theorien. All diese Träger von Informationen und Meinungen zeichnen ein Bild von der Welt durch die Vermittlung von Nachrichten und die Erklärungen, die sie uns anbieten über die Erscheinungen in der Welt. Das gilt für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und so auch für alles, was im weitesten Sinne mit Erziehung zu tun hat. Unsere Erziehung ist bestimmt von den Anforderungen, die die Gesellschaft an Erziehung stellt. Auch diese verändern sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen.
Besonders in den westlichen Industriegesellschaften haben die Theorie und Praxis der Kindererziehung einen Bruch erlebt durch die Studentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Die weitgehend patriarchalische Erziehung vor dieser Zeitenwende wurde abgelöst durch die sogenannte Antiautoritäre Erziehung. In der Folge dieser Bewegung traten Änderungen ein, die bis heute noch nachwirken und Erziehung beeinflussen.
Aber nicht nur diese neuen Theorien über Erziehung haben diese verändert. Vielmehr haben die veränderten gesellschaftlichen Tatsachen Erziehung beeinflusst. Die Zahl der Kinder in den Familien ist stark zurückgegangen. Waren vor dem 2. WK noch Familien mit zehn und mehr Kindern keine Seltenheit, so hat sich bis heute die Ein-Kind-Familie schon fast zur Regel entwickelt. Diese abnehmende Kinderzahl führt einerseits zu mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge, die dem einzelnen Kind entgegen gebracht werden kann. Im Gegensatz zu den kinderreichen Familien erfahren die Kinder allein schon aufgrund der geringeren Kinderzahl in den Kleinfamilien mehr Nähe und liebevolle Zuwendung. Liebe und Aufmerksamkeit müssen sich auf weniger verteilen, sodass mehr für das einzelne Kind übrig bleibt. Es muss nicht um die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern gekämpft und gebuhlt werden, wie das aus den kinderreichen Familien besonders der Vorkriegszeit bekannt war. Und dank des gewachsenen Wohlstands der Nachkriegszeit können Kinder heute vielmehr entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert werden. Der Nachteil dieser Entwicklung zu Kleinfamilie und Förderung der Fähigkeiten ist die immer umfassendere Kontrolle und Einflussnahme der Eltern auf das einzelne Kind. Die unkontrollierten Freiräume, die der Kinderreichtum dem einzelnen Kind bot durch die Unübersichtlichkeit der Kinderschar, werden für die Kinder der Kleinfamilien immer geringer.
Dieses Schrumpfen der Freiräume wird durch die veränderten Lebensbedingungen besonders in den Städten noch dadurch verstärkt, dass der öffentliche Raum zunehmend dem Auto gehört. Das freie Spielen auf der Straße ist kaum noch möglich. Kinder spielen heute in Schutzräumen wie Spielplätzen und immer mehr kommerziellen Einrichtungen. Kinderleben findet kaum noch draußen statt. Das Austoben in der freien Natur wird immer mehr ersetzt durch das Leben in virtuellen „Wirklichkeiten“. Das Leben der Kinder ist immer mehr verplant durch organisierte Freizeitaktivität wie Vereine und Kurse. Diese Planung liegt weitestgehend in den Händen der Erwachsenen, hier vornehmlich der Mütter.
Andererseits sind immer mehr Mütter berufstätig. Zum Teil ist das wirtschaftliche Notwendigkeit, da besonders in den unteren Einkommensschichten der Bevölkerung der Lohn der einfachen Arbeitskräfte nicht mehr ausreicht, um eine Familie zu ernähren. In gesellschaftlichen Gruppen mit höherer Qualifikation ist die Berufstätigkeit der Frau oftmals nicht so sehr wirtschaftliche Notwendigkeit als vielmehr weltanschaulich begründet. Berufstätigkeit gilt als Teil weiblicher Selbstverwirklichung. In beiden Fällen führt die Berufstätigkeit der Frau zu einer Auslagerung von Erziehung aus der Familie hinein in Kindergärten, Schulen (Ganztagsschule) und sonstige Betreuungseinrichtungen oder Betreuungspersonen entsprechend den finanziellen Möglichkeiten der Eltern. Erziehung wird delegiert.
Diese Entwicklung der Erziehung in Schutzräumen unter der ständigen Beaufsichtigung durch Erwachsene und die veränderte familiäre Situation der geringeren Kinderzahl hat die Möglichkeit der Kinder gemindert, sich dem Einfluss der Erwachsenen zu entziehen. Kindererziehung findet unter kontrollierten Laborbedingungen statt. Da ist nur noch wenig Platz für Kinder, sich in unkontrollierten Freiräumen selbst in der Herausbildung und Pflege gesellschaftlicher Beziehungen zu üben. Der Stil der Kommunikation wird vorgegeben von den Erziehern. Sie bestimmen den Umgang der Kinder untereinander entsprechend ihren Vorstellungen von Kindererziehung und vor allem entsprechend ihren Moralvorstellungen. Darin ist aber oftmals wenig Verständnis vorhanden über die entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen, die Kinder in sich tragen und die vor allem sehr unterschiedlich sind bei Jungen und Mädchen. Sie beide tragen verschiedene Programme von Entwicklung in sich, die den Moralvorstellungen und pädagogischen Erkenntnissen mitunter nicht in den Kram passen. Dennoch wirken sie aber als treibende Kräfte in unseren Kindern stärker als die Idealvorstellungen über Erziehung, die die pädagogischen Seminare manchmal vorhalten und vertreiben.
Hinzu kommt, dass insgesamt der weibliche Einfluss auf die Erziehung gewachsen und der des Mannes zurückgegangen ist. Waren Kindergärten in der Vorkriegs- und frühen Nachkriegszeit eher die Ausnahme, so sind sie mittlerweile zur Regel geworden und im Zuge neuer Gesetzgebungsinitiativen schon bald vielleicht sogar Pflicht. Die Erziehung in den Kindergärten wird bestimmt durch Frauen. Auch in den Schulen hat das weibliche Personal stark zugenommen. In den Grundschule stellen sie den überwiegenden Teil der Belegschaft. An den weiterführenden hat ihr Anteil im Gegensatz zur Vor- und frühen Nachkriegszeit stark zugenommen. Das bekommen besonders die Jungen zu spüren, die für ihre Identitätsfindung immer weniger Orientierungshilfen finden.
Diesen gesellschaftlichen Entwicklungen stehen die naturgegebenen gegenüber. Diese haben sich im Unterschied zu den gesellschaftlichen früher als Bestandteil menschlichen Verhaltens entwickelt und das über einen westlich längeren Zeitraum, weshalb sie uns als „naturgegeben“ erscheinen. Sie sind aber nicht von der Natur gegeben sondern Ergebnis einer über Jahrmillionen stattgefunden habenden Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Umfeld. Daraus sind genetische Dispositionen und Verhaltensweisen entstanden, die sich durchgesetzt haben als Formen, die ein Überleben unter dem damals herrschenden Bedingungen sichergestellt hatten. Auch diese haben sich über den langen Zeitraum menschlicher Entwicklung verändert, sind aber auch auf Grund der langen Erprobungsphasen grundlegender und nachhaltiger als die kurzfristigen Zyklen der gesellschaftlich bedingten Veränderungen. Deren Zyklen unterliegen Erkenntnissen, die oftmals von wechselnden Interessen bestimmt sind oder aber auch den veränderten Bedingungen, die sich durch den Fortschritt in Wissenschaft und Technik ergeben.
Wichtig in der Erziehung und der Wissenschaft über die Erziehung ist herauszufinden, was kurzfristige gesellschaftliche Mode ist und was als Ergebnis langfristiger Entwicklung verstanden werden muss. Kurzfristiges unterliegt der Beeinflussung durch Gesellschaft und Individuum, Langfristiges ist nicht zu beeinflussen, weil es oftmals auch genetisch bedingt und abgesichert ist. Die Atmung der Haut, der Herzschlag, Darmtätigkeit und viele andere Funktionen des Individuums sind von diesem selbst nicht bewusst beeinflussbar. Sie selbst und ihre Unbeeinflussbarkeit durch den Willen sind genetisch verankerte Funktionen, die sich im Laufe der menschlichen Entwicklung als lebenserhaltend durchgesetzt haben. Aber auch sogenanntes instinktives Verhalten ist im Laufe der Entwicklung vermutlich von einem bewusst ausgeführten Verhalten übergegangen in ein eher genetisch abgesichertes. So nimmt beispielsweise der stürzende Mensch automatisch und unwillkürlich eine Absicherungshaltung ein. Dieses Verhalten ist, wenn der Sturz nicht voraussehbar war, eine vom Bewusstsein nicht beeinflussbare Reaktion, die schneller stattfindet als Wahrnehmung und Bewusstmachung. Sie ist nicht nur über Jahrmillionen einstudiertes Verhalten sondern vermutlich auch genetisch gesichertes Reaktionsmuster zum Schutze des Körpers und des Lebens.
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