Um verstehen zu können, bedarf es des Einblicks in die Zusammenhänge und Hintergründe, vor denen Erziehung abläuft. Denn Erziehung ist eingebunden in menschliche und gesellschaftliche Entwicklung. Ohne Gesellschaft ist Menschheit, so wie wir sie heute kennen, nicht vorstellbar. Und ebenso unvorstellbar ist Menschheit ohne die Erziehung des Einzelnen zu einem gesellschaftlichen Wesen.
Viel mehr als pädagogische Tipps und Tricks geben Weltbild und Erkenntnisse Orientierung. Wer mit Landkarte und Kompass einen Marsch unternimmt, hat größere Chance, ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Denn er verliert die Orientierung nicht. Bei jedem neuen Richtungshinweis oder Zweifel genügt ein Blick auf Karte oder Kompass, um den Kontakt zum Ziel nicht zu verlieren. Denn Karte und Kompass verleihen den Überblick, der auf Grund der Kenntnis der größeren Zusammenhänge es immer wieder ermöglicht, den aktuellen Stand der Entwicklung zu erkennen und daraus die Schritte abzuleiten, die zum Ziel führen.
Übertragen auf unser Thema, sind die Erkenntnisse über Menschheits- und Gesellschaftsentwicklung die übergeordneten Orientierungshilfen wie Kompass und Landkarte bei der Wanderung. Beide ermöglichen jederzeit das Wieder-Einordnen in die Entwicklung, auch wenn zwischenzeitlich einmal die Orientierung verloren gegangen ist. Die überall am Wegesrand auftauchenden Hinweisschilder und Weggabelungen entsprechen den Ratgebern und Ratschlägen, die momentane Lösungen anbieten. Sie verstellen aber den Blick auf das Ziel in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Augenblicks. Hier steht die nur einzelne Situation im Vordergrund, die Beschäftigung mit dem einzelnen Wegweiser, der neuen Anforderung, die sich in der Weggabelung auftut. Diese Ratgeber reagieren auf Einzelerscheinungen, stellen die einzelne Situation nicht in den größeren Zusammenhang, in dem Erziehung steht. Sie sind keine Antwort auf die Frage: „Was ist das Ziel und wo stehe ich augenblicklich in Hinblick auf dieses Ziel?“
Hier drängt sich nun natürlich die Frage auf, was das Ziel von Erziehung ist? Die allgemeingültige Antwort darauf ist: Das Kind vorzubereiten auf das Leben. Erziehung ist die Aufgabe, unseren Kindern die Voraussetzungen mitzugeben, die es ihnen ermöglichen, das Leben ohne unsere Hilfe zu meistern. Die Vermittlung dieser Fähigkeiten ist ein Prozess, der in seinem Fortschreiten immer anderen Anforderungen unterliegt. Er beginnt mit dem Erwachen des neuen Lebens im Mutterleib, dem vollkommenen Ausgeliefertsein dieses neuen Lebens an die Mutter als der allwaltenden Beschützerin und Ernährerin in diesem frühen Stadium. Und der Prozess endet in der Regel mit dem Tod des letzten Elternteils als der endgültigen Abnabelung von den Personen, die dieses Leben gezeugt hatten. Damit ist dann die letzte physische Verbindung zwischen Eltern und Kind erloschen. Das ist der große Bogen der Eltern-Kind-Beziehung. Innerhalb dieses Bogens findet Erziehung statt, egal ob beabsichtigt oder vernachlässigt, ob bewusst oder unbewusst, ob zielgerichtet oder planlos beliebig. Erziehung findet statt. Nur das Ergebnis von Erziehung ist abhängig davon, wie Eltern diese Erziehung gestalten.
Aber Erziehung ist kein Business-Plan, der sich abarbeiten lässt und der, dem Allmachtgefühl des modernen Menschen folgend, planbar wäre bis ins Detail, nur alleine unserem Willen unterworfen, solange man nur über die richtige pädagogische Theorie verfügt und einen Katalog angemessener Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Grundsätze. Erziehung ist in mehrfacher Hinsicht ein dialektischer Prozess, vergleichbar der Flipperkugel, die durch den Spielautomaten gejagt wird und überall neue Impulse erhält, wo sie Fremdes berührt. Mal ist der Impuls schwächer, mal stärker. Mal ändert er den Lauf der Kugel und wieder ein anderes Mal verstärkt er dessen Richtung und gibt ihm neue zusätzliche Kraft. Dieser dialektische Prozess findet statt zwischen Eltern und Kind und mit zunehmender Entwicklung auch zwischen Kind, Eltern und Gesellschaft, je mehr sich das Lebensfeld des Kindes aus der Familie heraus in die Gesellschaft hinein ausweitet. Denn Erziehung findet nicht statt im luftleeren Raum, sondern ist eingebunden in Gesellschaft in der Form von Familie, aber auch außerhalb der Familie in der Form der Einrichtungen des politischen Gemeinwesens, dessen Teil wir alle sind, wie Kindergarten, Schule, Vereine, Betrieb usw.
Mit dem oben erwähnten Zusatz „wann“ wird die Frage der Kindererziehung einerseits leichter. Denn es wird deutlich, dass es unterschiedliche Entwicklungsstufen gibt, denen Rechnung getragen werden muss. So ist es beispielsweise richtig, das Kind in seiner frühen Phase der Hilflosigkeit als Säugling zu behüten, zu umsorgen und ihm viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Verhalten kann aber in fortgeschrittenem Alter nicht mehr nicht nur nicht hilfreich sondern sogar sehr schädlich sein, weil es die Entwicklung des Kindes zu einem selbständigen und eigenverantwortlichen Menschen behindern kann. Es gilt also das Sprichwort des Volksmundes, das vielleicht platt erscheint, aber von oftmals unterschätzter Weisheit erfüllt ist: Alles zu seiner Zeit.
Und so stellt sich dann die Frage von neuem, nun aber anders: Was braucht mein Kind auf seinem aktuellen Entwicklungsstand? Natürlich ändert sich an den materiellen Grundbedürfnissen nichts, die von denen der Erwachsenen nicht so verschieden sind und deshalb für die Menschheit allgemein gelten. Menschen brauchen Nahrung, Wärme und Schutz vor Gefahr. Das sind die Grundvoraussetzungen für den Fortbestand des Lebens und sollen deshalb bei den vorliegenden Betrachtungen ausgeklammert werden.
Hier geht es vielmehr und die Frage, welche Unterstützung braucht das Kind, um dem weiter vorne erklärten Erziehungsziel näher zu kommen, nämlich, die Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihm ermöglichen, sein eigenes Leben anzunehmen und es zu meistern. Mit der fortschreitenden Entwicklung unserer Kinder wandeln sich die Anforderungen an die Eltern zur Unterstützung dieses Prozesses.
Der Mensch als Gattung wie auch als Individuum ist die am höchsten entwickelte Lebensform auf unserem Planeten. Seine Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, die er seiner Fähigkeit verdankt, mehr als alle anderen Lebewesen seine Handlungen planen zu können. Der Mensch denkt. Das heißt, er ist in der Lage, durch die Fähigkeiten seines Gehirns, Handlungen vorab durchzuspielen. Im Denken handelt er probeweise, was bedeutet, dass er seine Handlungsweise auf die möglichen Folgen hin untersuchen kann. Das erspart es ihm, sich Situationen auszusetzen, die für ihn gefährlich sind. Er ist in der Lage, Ereignisse zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen, die ihn Fehler vermeiden lassen.
Damit verbesserten sich seine Lebensbedingungen als ein ursprünglich relativ wehrloses Wesen, das nicht mit besonderen körperlichen Fähigkeiten ausgestattet war. Er konnte nicht fliegen, war nicht sehr schnell, nur mit vergleichsweise geringen Körperkräften ausgestattet, kein guter Kletterer und auch kein hervorragender Schwimmer. Mit diesen Voraussetzungen war er eher Beute als Jäger und damit sehr weit unten in der Nahrungskette angesiedelt. Zu der Entwicklung seiner Hand als einem vielseitig einsetzbaren Werkzeug verbesserte die Zunahme seiner Denkfähigkeit in der Frühphase seiner Entwicklung seine Überlebensmöglichkeiten als Gattung in einer feindlichen Umwelt. Er stieg auf vom Beutetier zum Genie, dem es als einzigem Lebewesen gelungen ist, die Erde zu verlassen.
Je nach Einstellung und Weltbild kann man diese Entwicklung als göttlichen Plan ansehen oder entsprechend der materialistischen Weltsicht als eine Summe von Zufällen, deren Ergebnis das Leben war. Nur darf man diesen Begriff der Zufälle nicht so naiv sehen, wie die Gegner des materialistischen Weltbildes ihn gewöhnlich darstellen. Vielmehr sind diese „Zufälle“ nichts anderes als die Auswirkungen der Naturgesetze, die auf unserer Erde herrschen. Diese lösten und lösen immer noch durch Wind und Sturm, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Blitze und Feuersbrünste, Hitze und Kälte Vorgänge aus, die die Elementarteilchen auf der Erde in Bewegung halten, sie um den Globus treiben und sie aufeinandertreffen lassen. Aus diesem willkürlichen Zusammentreffen oder gar Zusammenstoßen der unterschiedlichen Atome und Moleküle gingen neue Verbindungen hervor, vielleicht sogar das Wasser. Diesen Ergebnissen gingen Jahrmillionen, ja Jahrmilliarden, einer Entwicklung voraus, die diese Ergebnisse nicht hervorgebracht hatten, weil einerseits die Naturgewalten nicht die passenden Stoffen zusammengetrieben hatten oder aber weil die Voraussetzungen der Umgebung den Fortbestand dieser neuen Verbindung nicht zugelassen hatten.
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