Die Dicke maß mich sogleich erstaunt. Oh, wie kalt lief es mir über den Rücken. Ich weiß nicht, was mich daran hinderte, die Sache nicht sofort abzubrechen, denn ich sah klar, dass ich mich immer mehr verrannte. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, sich mit irgendeiner Ausrede davonzustehlen. Stattdessen begann ich noch einmal von vorn, nur jetzt mit mehr Dramatik und konnte entschieden nicht begreifen, warum ich das tat. Im Gegensatz zu dem Männlein fand sie das alles ’urkomisch’, nannte mich ’ulkig’ und kicherte in einem fort.
„Na, sagen Sie mal, Sie genieren sich ja. Hast du das gesehen, Kurtchen, er wird ja richtig rot. Ist er nicht süß?“
„Er wird schon seinen Grund haben“, stichelte dieser boshaft, „uns ist er jedenfalls nicht ganz koscher, nicht wahr Fiffi?“
„Ach was. Geben Sie mir ihren Arm, nun machen Sie schon ... Na, sehen Sie ... So, und nun werden wir gemeinsam rübergehen und nachsehen. Vielleicht finden Sie dann Ihren Bekannten.“
Noch bevor ich mich versah, hatte sie mich auf die Straße gezerrt, und ich fand mich mit ihr Arm in Arm auf der anderen Straßenseite wieder. Dabei hielt sie meine Hand so fest umklammert, dass ich vor Schmerz fast schrie. Ich war verwundert und betroffen über deren burschikose Art, die keinerlei Widerspruch duldete. Wahrscheinlich drückte meine Miene in diesem Moment mein ganzes Befremden aus, denn sie lachte mir vergnügt ins Gesicht und kniff mich unaufhörlich wie einen alten Wischmopp.
Der Alte oben quollen derweil die Augen heraus. Dabei mussten wir ein unmögliches Bild abgegeben haben, denn die Dicke, die wesentlich kleiner war als ich und bei jedem Wort aufschauen musste, gackerte in einem fort, als wären wir schon lange miteinander bekannt, indes ich steif wie eine Brechstange nur stur geradeaus starrte, allein um diesen Eindruck zu revidieren. Noch immer fühlte ich mich überrollt; zudem plagten mich üble Leibschmerzen. Doch das war nichts gegen die Furcht vor einer spontanen Begegnung mit Bratapfel. Unentwegt starrte ich zur Haustür hin in banger Erwartung, sie könne sich jeden Moment öffnen und er heraustreten. Wie sollte ich mich dann erklären?
„Was ist denn?“ zwitscherte sie, über meine Zurückhaltung amüsiert. „Ist es wirklich so schlimm? ... Geben Sie her.“ Und schon nahm sie mir mein Notizblock aus der Hand und begann die Namen vom Klingeltableau abzuschreiben, dabei laut mitsprechend: „Cetinkaya, Comanoglu, Üztürk, Kuyumcu ... Aber hören Sie, da sind keine Deutschen bei, alles Ausländer. Ist es auch wirklich hier?“ Damit nicht genug. Sie trat jetzt einige Schritte zurück, legte die Hände wie ein Schallrohr an den Mund, um besser hörbar zu sein und keifte nach oben zu der Alten hin, ob sie nicht wisse, usw. usf.
Die neigte sich noch weiter heraus und verstand natürlich nicht, so dass sie alles noch einmal wiederholen musste. Man mag mir glauben, ich war mehr tot als lebendig. Warum nahm sie mir nicht gleich den Pass ab und plakatierte meine Personalien an die Hauswand?
„Wir können noch mal im Laden fragen“, schlug sie vor, und noch bevor ich etwas einwenden konnte, hatte sie mich in den Verkaufsraum geschoben. Zum Glück war kein Kunde anwesend. Lediglich hinter der Kasse stand eine aufgedonnerte Blondine, die sogleich großen Eindruck auf mich machte. Auch wenn ihre Lippen in diesen Moment ein abschätziges Lächeln umspielte, das Lächeln einer Frau, deren Abgeklärtheit zweifelhaften Erfahrungen entsprang, entschädigten mich ihre jugendliche Frische, die strahlend blauen Augen und die überaus üppige Oberweite.
Um zu verhindern, dass das Missverständnis noch ärger wurde, riss ich mich von meiner Peinigerin los, stürzte zum Verkaufstisch hin. „Sie werden entschuldigen, aber ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ... mir ist das alles schrecklich peinlich ... also die Sache ist die ... ich bin gekommen und weiß nicht so recht, ob es der rechte Zeitpunkt ...“ An dieser Stelle blieb ich stecken, denn die Anwesenheit der Dicken verwirrte mich.
„Gnädigste“, wandte ich mich um und wies unmissverständlich zur Tür „aber die Sache geht wirklich nur mich an.“
Sie färbte sich daraufhin krebsrot und war nahe dran, mir eine zu kleben. Dann aber schleuderte sie mir ein schnippisches „Pah“ entgegen und rauschte wutschnaubend hinaus. Dabei schlug sie hinter sich die Tür zu, dass es nur so rasselte. Ich stand wie betäubt, aber die Situation war einfach surreal. Eben noch von der Übermacht dieser Person erdrückt, euphorisierte mich ausgerechnet diese Blondine. Wie konnten heiß und kalt nur derart beieinander liegen?
Dabei spielten die herumliegenden anstößigen Accessoires bestimmt keine Rolle. Eine wunderbare Süße strich leise über mein Herz und löste augenblicklich ein heftiges Brennen und Schlagen aus, als sei es vor etwas erschrocken. Es war jenes peinliche Gefühl, das mich jedes Mal von Neuem betäubt, aber auch ängstigt. Sie maß mich indes etwas abschätzig, was mich umso mehr beleidigte, da es mit einem Lächeln geschah. Zweifellos missverstand sie mich.
Ich wollte mich erklären, aber ihre blauen Augen verhinderten es. Noch immer das Notizbuch umkrampfend, fand ich zwar meine Stimme wieder, sagte auch etwas, konnte mich aber nicht verständlich machen. Sie sah mich besorgt an und erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich erschrak ob der Absurdität dieser Frage und wehrte lachend ab. Sie meinte, ich sollte mich erst mal beruhigen und meine Gedanken ordnen. Dabei war ich die Ruhe selbst, und meine Gedanken waren auch in Ordnung. Nur vermochte ich das Zittern nicht abzustellen, was zum Wackeln des Verkaufstisches führte, worauf ich mich die ganze Zeit stützte.
Aber warum guckte sie mich so an? Kam es wirklich so selten vor, dass sich ein schüchterner Mann in ihren Laden verirrte? „Kennen Sie einen Bratapfel?“ fragte ich schließlich zaghaft.
„Wen?“
„Oh Entschuldigung, es muss sicher reichlich unsinnig klingen, aber sein richtiger Name ist mir leider entfallen. Er hat hier aber mal gewohnt, das weiß ich genau. Und Sie werden doch zugeben, dass es in Anbetracht der Umstände, ich meine, da wäre es doch möglich, dass Sie ...“
Ich merkte, dass ich die Fassung verlor und hielt inne. Mein Fehler war, dass ich lebhaft wurde. Es ist immer unklug, lebhaft zu werden, wenn man die Fassung verliert. So etwas macht unglaubwürdig.
„Aber wie sollten Sie auch“, setzte ich lachend hinzu. „So einen Nichtsnutz, so einen aufgeblasenen Möchtegern muss man nicht kennen. Ich meine, das ist kein Verlust, wenn Sie verstehen. Denn ausser einer großen Klappe hat er nichts zu bieten, dieses verdammte Äpfelchen."
"Wie Sie das sagen - Äpfelchen, klingt komisch."
"Ist es auch, hahaha."
"Sie meinen, er hat rote Wangen?"
"Feuerrote sogar, richtig drollig sieht er aus. Daher auch sein Spitzname."
"Warum lachen Sie?"
"Wieso nicht?"
"Ich weiß nicht. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, vielleicht kenne ich ihn doch ... Er ist Deutscher und in ihrem Alter?"
Ich nickte eifrig und kam mir wie ein Trottel vor.
„Und er hat so einen schlaksigen Gang?“
„Schlaksiger geht es nicht mehr“, bekräftigte ich.
„Sie meinen, er schlurft so beim Laufen, besonders über den linken Onkel?“
„Und wie!“ Ich äffte seinen Gang mit zwei Schritten nach.
„Dann kann es nur der Günther sein“, schloß sie.
Kaum hatte sie diesen Namen ausgesprochen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Günther Steinberg, genannt Bratapfel!“ rief ich begeistert aus und schlug die Hände vors Gesicht. Wie konnte ich das nur vergessen? Nun fand ich auch die Kraft, zusammenhängend und flüssig zu erzählen, was ich schon lange sagen wollte.
Und was fiel mir nicht alles ein. Ich erklärte ihr die Umstände unserer komplizierten Beziehung, wobei ich manch kleine Posse sogar recht amüsant fand. Natürlich vernachlässigte ich unsere Animositäten und betonte primär unser schwieriges, im Grunde aber loyales Verhältnis, kurzum, warum die Dinge standen, wie sie standen und nicht wie sie hätten stehen können, wenn nur die Umstände ...
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