Oh, wie durchschauerte mich ihre Amoralität samt dem billigen Gehabe. Dabei war die Betonung ihrer Weiblichkeit nichts als kalte Professionalität. Dieser laszive Augenaufschlag, dieses Wackeln mit dem Hintern, alles nur Show. Daran vermochte auch ihr zuckersüßes Lächeln nichts zu ändern. Sie blieb, was sie war und zeigte es auch ganz offen. Glaubte sie wirklich, ich fiele darauf herein?
Mein Herz begann zu rasen und meine Schritte bohrten sich in den Asphalt, vor allem, nachdem sie mir auch noch nachpfiff. Das erschütterte mich bis ins Mark.
Ein Gemüsehändler hätte das zweifellos besser gemeistert. Ich aber bin nun mal keiner. Offenbar bemerkte sie das und benahm sich deshalb so. Meine Schwächen zu unterdrücken gehörte noch nie zu meinen Stärken. Wie es mir allerdings gelang, mich dennoch so weit zu zügeln, dass ich im entscheidenden Moment ihr dreistes: „Na Süßer“, mit einem saloppen: „Oh non, merci Madame“; parierte, weiß ich nicht. Jedenfalls fühlte ich mich danach sauwohl und das nicht nur wegen ihres dummen Gesichts.
Ich war nur wenige Schritte gegangen und hatte diesen Schreck noch nicht verdaut, als mir ausgerechnet jetzt jemand entgegenkam, den ich nur zu gut kannte. Ein Irrtum schien ausgeschlossen. Ein Mensch von solcher Gestalt und Gang war ein Unikat, in diesem Fall in Form eines ehemaligen Schulkollegen mit Spitznamen Bratapfel. Sein richtiger Name war mir entfallen.
Behäbig schritt er mit hängenden Schultern und tief in den Taschen vergrabenen Händen dahin, dazu sein feistes Gesicht mit den stets geröteten Wangen, was ihm seinerzeit diesen Beinamen einbrachte. Ich erinnerte mich nur ungern an ihn, denn wir hatten seinerzeit kein gutes Verhältnis. War er doch ein Mensch ohne Manieren und gehörte zu jenen Schwätzern, die sich gern in den Vordergrund schoben und aus dieser Position heraus stets in einem nachlässigen und anmaßenden Ton redeten. Hin und wieder kam ihm zwar mal eine Idee, ansonsten aber beschränkte sich sein Wesen auf dumme Witzeleien und kurzsichtiges Verurteilen anderer. Gern deckte er fremde Fehler auf und hängte sie an die große Glocke, die eigenen hingegen sah er nie.
Wir mochten uns nicht. Folglich ließen wir keine Gelegenheit aus, das einander zu bezeigen, wenn auch mit dem Unterschied, dass ich es schweigend tat, er hingegen laut. Ich hatte ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen und war überrascht, ihn hier zu treffen.
Normalerweise war er mir schnuppe, und ich hätte ihn bestimmt nicht weiter beachtet, wäre nicht die Situation so dumm und ein Ausweichen noch dümmer gewesen. Gewiss hätte ich umdrehen und schnell weglaufen können. Aber warum? Machte ich mich etwa eines Vergehens schuldig, nur weil ich zu dieser Zeit an diesem Ort war? Ebenso stand zu befürchten, dass auch er mich längst bemerkt hatte und womöglich von den gleichen Ängsten geplagt wurde? Demnach war meine Situation nicht weniger prekär als seine, nur mit dem Unterschied, dass ich rein zufällig hier war, für ihn hingegen nicht bürgen würde. Also hielt ich auf ihn zu, bereit, ihn umzurennen, sollte er nicht weichen.
Ich kannte ihn, um zu wissen, wie ungern er das tat. Das lag in seinem Wesen, wonach sich alles seinem Willen zu fügen hatte. Und doch war er nur in der Gruppe stark, allein scheute er die Konfrontation. Ich hingegen war immer allein und Konfrontationen gewohnt. Das war mein Vorteil. Ich war gespannt auf seine Reaktion. Sicher würde er mich übersehen, weshalb ich den Blick nicht senken müsste. Selbst ein wortloses Aneinander-vorbei-schreiten wäre unter solchen Umständen für ihn weitaus unangenehmer.
Doch was, wenn es anders käme, er stehen bliebe und unerwartet grüßte? Immerhin war er dreist genug, selbst aus einer solchen Situation noch Kapital zu schlagen. Sollte ich dann erwidern und so tun, als wäre alles in bester Ordnung, obwohl nichts in bester Ordnung war? Dann müsste ich ebenso heucheln wie er. Kam nicht in Frage.
Natürlich waren das nur Gedankenspiele, geschuldet meiner unnötigen Erregung. Womöglich käme alles ganz anders. Er könnte sich ebenso verwundert geben und diese Verwunderung allein meinem Hierseinzuschreiben, da er genau wusste, dass ich hier nicht wohnte und demzufolge hier auch nichts verloren hatte. Allerdings stünde dann eine schmutzige Unterstellung dahinter, die wortlos ausgedrückt viel kompromittierender wäre, als jeder direkte Vorwurf. Oh, ich kannte ihn, darauf verstand er sich. Dabei hatte er kein Recht, mich so zu beurteilen. Ebenso könnte auch ich jetzt schmutzig über ihn denken (was ich im Übrigen auch tat), doch besäße ich den Takt, es nicht zu zeigen. Das war der Unterschied.
Jetzt endlich hatte er mich bemerkt, was seine plötzliche Schrittverzögerung verriet. Erwartungsgemäß lag keine Freude in seiner Miene, sondern so etwas wie Schreck und dumme Verwunderung. Unmöglich, jetzt noch an ihm vorbeizugehen. Das Gleiche wird er auch gedacht haben, denn ich meinte plötzlich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen, als wollte er sagen: ‚Na du Gauner, habe ich dich erwischt?‘
Mittlerweile hatten wir einander erreicht, und er machte noch immer keine Anstalten, die bis zum Zerreißen gespannte Situation durch einen Tagesgruß oder etwas in der Art zu entschärfen. Da es mir nun zu dumm wurde, noch länger so zu tun, als wäre nichts (es war ja auch nichts), ich aber für Klarheit bin, sprach ich ihn unvermittelt an. Was ich dabei genau sagte, weiß ich nicht mehr. Er hob verdutzt die Brauen und tat, als erkenne er mich erst jetzt.
„Oh, Sie?“, entfuhr es ihm müde, und eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht.
„Ja, ich“, erwiderte ich mit leicht zitternder Stimme, nahm mich aber zusammen.
„Schön“, antwortete er emotionslos, obwohl es alle andere als schön war.
Ich setzte sofort nach, indem ich von mir zu erzählen begann und dabei, wie ich mich entsinne, wie ein Wasserfall redete. So berichtete ich ihm ohne Punkt und Komma wie es mir ginge und was ich hier triebe (dabei musste ich nicht mal lügen); dass ich demnächst dies und jedes vorhätte und schon lange niemandem aus den ’alten Zeiten’ mehr begegnet wäre, was ich zwar bedauere, aber nicht ändern könne, da der Strom der Zeit ... ja, der Strom der Zeit ...
Er hörte sich das alles an und quittierte es wiederum nur mit einem: „Schön.“ Das empörte mich, weil ein ’schön’ hier einfach nicht passte, weil es mich degradierte und seinem offenkundigen Desinteresse an einem vernünftigen Dialog entsprang. Ich trat an ihn heran und maß ihn zornig. Er schaute jedoch nur verständnislos, obgleich er ganz genau verstand.
Da platzte mir der Kragen und ich begann Tacheles zu reden. Ich erklärte ihm also, dass ich es unmöglich fände, jemanden zu erkennen und dann zu tun, als kenne man ihn nicht, ihn darüber hinaus noch auszuholen und derweil selbst zu schweigen. Offenbar habe er sich in all den Jahren nicht geändert, und wenn er ein Mann von Ehre wäre, würde er jetzt mit mir reden, wie man mit einem Mann von Ehre redet, nämlich offen und ehrlich und solche Mätzchen unterlassen.
Ob es an seiner Ruhe oder seinem stillen Lächeln lag, weiß sich nicht. Jedenfalls kam ich immer mehr in Fahrt.
„Hören Sie...“ wandte er schließlich ein. Doch ich ließ es nicht zu, indem ich ihn einfach niederschrie: „Nein, jetzt hören Sie!“ und setzte meine Tirade unvermindert fort.
So standen wir eine ganze Weile einander gegenüber, wobei ich gar nicht merkte, dass schon einige Passanten stehen geblieben waren. Plötzlich nahm er meine Hand von seinem Arm (ich musste ihn unwillkürlich umfasst haben), wischte sich eine Speichelflocke von Reverse, die mir im Eifer von der Lippe gespritzt war und meinte in kaum zu überbietender Niedertracht: „Sie sind überspannt, mein Bester, völlig überspannt.“ Dabei lag ein kaum bemerkbares, boshaftes Lächeln auf seinen Lippen; eben weil es kaum bemerkbar war.
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