1 ...8 9 10 12 13 14 ...33 Schlimmer war für den Vater, der immer stolz auf das blonde, wellige Haar seiner Tochter gewesen war, dass sich dieses nun ebenfalls, mit Hilfe von allerlei chemischen Substanzen, tiefschwarz präsentierte. Auch hing das lange Haar nun meist strähnig im Gesicht des Mädchens, und oft hätte man den Eindruck gewinnen können, sie würde durch diesen düsteren Vorhang die Welt um sie herum kaum mehr wahrnehmen. Was nun keinesfalls bedeuten soll, dass das Mädchen sich von diesem Zeitpunkt an vernachlässigte, nur wusch sie sich nicht mehr jeden Tag ihre Haarpracht mit den teuersten Shampoos und keine Spülung kam ihr mehr auf den Kopf. Ansonsten roch sie keineswegs unangenehm, wie ihr alter Herr feststellen musste. Im Gegenteil, das Fehlen dieses durchdringenden Maiglöckenparfums, das sie vormals wie eine Aura umgeben hatte, fiel eigentlich recht positiv ins Gewicht, wie er meinte.
Dennoch machte sich selbstverständlich Prof. Müllerschön so seine Gedanken. War doch die Scheidung von seiner Frau an der Veränderung schuld, die mit dem Mädchen vorgegangen war? Allerdings war das doch nun schon mehr als fünf Jahre her, sollte der Knacks, den möglicherweise ihre Psyche durch das Fehlen der Mutter erlitten haben mochte, erst zeitverzögert sich geäußert haben? Der Vater konnte, oder wollte sich dies nicht vorstellen und tat diese Verwandlung schließlich damit ab, sie für ein ganz normales pubertäres Phänomen zu erachten, das die langsame Abkoppelung vom Elternhaus einleitete.
Monika Müllerschön, die Ex-Gattin war eine sehr attraktive Frau gewesen, und war es auch heute noch. Nie jedoch hatte sie die Mutterinstinkte entwickeln können, die doch von der Mehrheit der Gesellschaft als natürlichstes Verhalten angesehen werden. Nach Lukretias Geburt war die Depression auf die Frau herabgesunken wie ein dunkler Vorhang. Und während sich dies bei den meisten frischgebackenen Müttern nach kurzer Zeit wieder gibt, und sie dann durchaus in der Lage sind, eine gesunde Beziehung zu ihrem Nachwuchs zu entwickeln, so stellte sich bei Monika leider keinerlei Veränderung ihres Gemütszustandes ein. Monatelang hatte sie einfach nur im Bett gelegen, ihren Mann verflucht, der ihr dies angetan hatte, bis sie schließlich an einem Herbstmorgen wieder damit begann, ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin nachzugehen. Dies änderte jedoch nicht ihr Empfinden dem Kind gegenüber, ausschließlich der Gatte kümmerte sich um das kleine Gör, wenn es hungrig schrie oder von Koliken geplagt wurde. Wolfgang hatte sich, an der Universität an der er lehrte, eine Auszeit nehmen können, um sich die erste Zeit um seine Tochter zu kümmern, und für jemanden, dem man immer eine gewisse Zerstreutheit nachgesagt hatte, machte er seine Sache erstaunlich gut. Mit der Geduld eines Engels schlug er sich die Nächte um die Ohren, wenn das Kleine wieder von Schmerzen geplagt wurde, verabreichte Fencheltee, wechselte die Windeln und sang ihr Lieder von den Beatles vor, wenn sie nicht einschlafen wollte.
Eines Tages hatte Monika ihre Koffer gepackt, ein Taxi bestellt und war verschwunden. Wolfgang bekam seine Frau nur noch einmal beim Scheidungstermin zu Gesicht, wo sie alles was er ihr vorlegte ohne hinzusehen unterschrieb und auf der Stelle nun endgültig aus ihrer beider Leben entschwand. Sie hatte es nicht einmal fertiggebracht, ihm ins Gesicht zu sehen. Ein paar Wochen später hörte der, nun alleinerziehende, Vater, dass seine Ex-Frau Teilhaberin einer großen Anwaltskanzlei für Wirtschaftsrecht in Frankfurt am Main geworden sei, sie hatte also keinen großen räumlichen Abstand zwischen sich und ihren ehemaligen Gatten gebracht, lehrte dieser doch an der Universität derselben Stadt. Aber viele Jahre hörte er kein Wort mehr von ihr.
Lucy schien seither jedoch nichts zu vermissen, soweit dies Prof. Müllerschön beurteilen konnte. Da sie von kleinauf daran gewöhnt war, nur ein Elternteil zu besitzen, hätte sie auch nicht sagen können, wie es wäre auch noch ein zweites zu haben. Auch heute, da sie längst begonnen hatte eigene Wege zu gehen, hätte man nicht behaupten können, dass es dem Kind an irgendetwas mangelte. Im Gegenteil war sie bis zu dem Tag, an dem diese äußerliche Verwandlung vorgegangen war, immer ein ausgeglichenes, fröhliches Kind gewesen. Auch jetzt, da sie doch immer eine Aura von Trauer zu umgeben schien, war sie eine gute bis sehr gute Schülerin geblieben. Nichts Grundlegendes hatte sich eigentlich verändert, und nach dem ersten Schrecken hatte sich Prof. Müllerschön mit dem neuen Erscheinungsbild seiner Tochter rasch abgefunden und machte sich keine allzu großen Sorgen deswegen. Lucy selbst hätte nicht sagen können, was diese Verwandlung eigentlich ausgelöst hatte.
Ungefähr zwei Jahre später, Lukretia zählte jetzt fünfzehn Lenze, verließ das Mädchen gerade, mit dem Jahreszeugnis in Händen, das Robert-Koch-Gymnasium in ihrem Wohnort Eschenfeld. Auch die zehnte Jahrgangsstufe hatte sie mühelos überwinden können, keine einzige Fünf und nur zwei Vieren, eine davon seltsamerweise in Kunst, wiesen sie als eine Schülerin aus, die sich immer noch im oberen Mittelfeld befand. Es wurmte sie allerdings in Sport nur neun Punkte bekommen zu haben, hielt sie sich doch für eine ausgezeichnete Läufer- und Schwimmerin. Lucy verabschiedete sich auf den Stufen der Schule noch von ihrer besten Freundin Helena, die schon am nächsten Tag mit ihren Eltern an die Algarve reisen sollte, als ihr ein äußerst merkwürdig aussehender kleiner Junge von der anderen Straßenseite aus zuwinkte.
Sie drehte sich um, suchte mit Blicken vergeblich denjenigen, den der kleine Kerl wohl meinen könnte, es befand sich aber außer ihr niemand mehr auf der Treppe der Schule. Drüben, auf der anderen Seite, lagen die gepflegten städtischen Parkanlagen von Eschenfeld im grellen Sonnenlicht, die Mittagsstunde war gerade herangebrochen, und Lucy begann zu schwitzen in dem nachtschwarzen Cape, das sie sich um die Schultern gewunden hatte. Vielleicht hätte das dunkle, weite Männerhemd mit den violetten Rüschen am Kragen, das sie darunter trug bei diesen Temperaturen schon ausgereicht, dachte sie, als der Junge, den sie nicht aus den Augen gelassen hatte, wie betrunken auf die Fahrbahn zuzutaumeln begann.
Die Straße war zu dieser Tageszeit stark befahren. Ein Sattelschlepper, der gerade mit überhöhter Geschwindigkeit vorbeirollte, verdeckte Lucy die Sicht auf den Jungen. Die städtischen Behörden hatten zwar in der Tauberstraße eine Dreißiger- Zone eingerichtet, da sie ja direkt am Nebeneingang zur Schule lag, doch hielten sich viele Autofahrer in diesem Fall nicht an die Vorschriften. Dann konnte das Mädchen den Knaben wieder ausmachen. Anscheinend war er vor der Straße zurückgewichen und dann unsanft mit dem Hinterteil auf das Trottoir geplumpst, schien sie jedoch dabei nicht aus den Augen gelassen zu haben.
'Merkwürdiger kleiner Kerl’, dachte Lucy noch, als der fremde Junge sich mühsam wieder aufzurappeln begann, ohne dabei aufzuhören, ihr mit einer Hand zuzuwinken. Als er dann endlich wieder stand und erneut den Weg über die Straße antreten wollte, wurde er schließlich beinahe von einem vorüberfahrenden Personenbus gestreift, der laut hupend vorbeirauschte. Lucy konnte noch die schreckgeweiteten Augen des Fahrers erkennen, dann war auch der Omnibus weitergefahren.
'Was macht der da bloß? Will der sich etwa umbringen?', schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Und warum lief er nicht einfach die vierzig Meter nach rechts, wo das blau-weiße Schild, das den Zebrastreifen anzeigte, eigentlich nicht zu übersehen war. Unbeirrt begann der Junge aufs Neue sich zu erheben, dabei schien er ihr etwas zuzurufen, was jedoch im Verkehrslärm unterging.
Lucy deutete in die Richtung, in der der Fußgängerübergang lag und bewegte sich auf der anderen Straßenseite in dieselbe Richtung. Gott sei dank schien der Kleine sie verstanden zu haben, da auch er sich nun aufmachte, anscheinend jedoch ohne das Mädchen drüben aus dem Blick verlieren zu wollen. Endlich waren beide am Zebrastreifen angekommen. Lucy hob selbstbewusst den Arm, die Karawane an Personenkraftwagen kam zu einem Halt, und schnellen Schrittes überquerte sie die Fahrbahn, wo der Knabe sie mit ehrfurchtsvollem Blick erwartete.
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