Simon kam es vor, als teile die Person einen von Ungeheuern bewohnten Ozean, als sie da so stolz über die Strasse schritt. Er hatte aber eigentlich von dem Vampyr nichts anderes erwartet. Als Lucy aber näher und näher kam, musste der Junge zu seinem großen Schrecken erkennen, dass es sich bei der Gestalt, die er für Wondraczek gehalten hatte, keineswegs um diesen handelte.
Nein, das war ja noch dazu ein Mädchen, musste er entsetzt feststellen. Ein recht großes Mädchen zwar, sie wirkte in etwa so groß wie Wondraczek in seiner üblichen, vampyresken Gestalt, so kam es dem Jungen zumindest vor. In Wirklichkeit war Lucy zwar um einiges kleiner, aber Simon befand sich in diesem Moment auch in einem etwas mitgenommenen Zustand.
„Bist du eigentlich lebensmüde, Kleiner?”, schrie das Mädchen fast heraus, und hielt ihn am Arm fest, bevor er nochmal auf die Straße taumelte. Der Junge hatte ihr doch einen ganz schönen Schrecken eingejagt.
„Ich, ich ...“, begann Simon zu stammeln, dabei zuckte er mit den schmalen Schultern, als ob er kurz davor war, einen Anfall zu erleiden. „Ich hab' dich wohl mit jemandem verwechselt!“
„Scheint so! Aber das kann doch jedem mal passieren!“, meinte das Mädchen daraufhin mit erhobener Stimme, gerade kam ein Biker auf einer großen Maschine vorbeigetuckert.
„Ich,...ich hätte schwören können, du bist mein Freund Wondraczek.“, meinte Simon und rieb sich verwundert die Augen. „Gerade vorhin stand er noch mit mir am Ufer des Umso Meeres, und dann war ich plötzlich da drüben unter den Bäumen.“ Der Junge deutete in die Richtung, in der der Stadtpark friedlich in der sommerlichen Hitze vor sich hin döste, ohne dem chaotischen Treiben auf der Straße Aufmerksamkeit zu schenken. So eine Parkanlage interessiert sich im Übrigen so gut wie nie für die Belange des hektischen Verkehrsbetriebs unserer Tage, zumindest solange bis die Bulldozer auftauchen.
„Du warst wo?“ Lucy glaubte, einen kleinen Irren vor sich zu haben. Vielleicht ein Siebtklässler, der zu viele Computerspiele konsumierte und dadurch in fremde virtuelle Welten abgedriftet war. Man las ja so allerhand über die Gefahren der digitalen Welt. Besonders Jungs schienen in dieser Beziehung recht anfällig zu sein, wusste Lucy.
„Da hinten unter den Felsen, die jetzt allerdings Bäume sind!“, sagte der Junge und deutete wieder in Richtung des Parks.
„Ach“, meinte das Mädchen jetzt. Eine Bemerkung, die nichts anderes als vollkommene Hilflosigkeit ausdrückte, gepaart mit der Vorspiegelung kommender Erkenntnis. „Dann führ' mich doch da mal hin!“, sagte sie dann und dachte bei sich: 'Auf irgendeine Weise werde ich den kleinen Kerl doch wieder zu Verstand bringen.' Außerdem wollte sie den Jungen erst einmal außerhalb der Gefahrenzone des Straßenrandes haben.
Lucy schwang sich ihren, in tiefem Schwarz gehaltenen, Rucksack, der an diesem letzten Schultag zum Glück kaum gefüllt war, über die Schulter und folgte dem unbekannten Knaben, der ihr immer ein paar Schritte voraus war. Langsam ließen sie den Verkehrslärm hinter sich und konnten nun die leise rauschenden Blätter hören, die sich in der leichten Brise bewegten. Ein kleiner Bach, der weiter links in einen Tümpel mündete, der von Entengrütze beinahe zur Gänze bedeckt war, wurde von den beiden auf einem hölzernen Brückchen überquert, dann standen sie vor den zwei riesigen, uralten Eichen, die dem Park seinen Namen gaben.
„Hier, genau hier!“, rief der Junge aufgeregt aus, als sie bei den eindrucksvollen Bäumen angekommen waren. „Hier war das Sieb gespannt gewesen!“.
„Ein Sieb, zwischen Bäume gespannt?“, Lucy wurde allmählich etwas ungeduldig. Mit diesem Geschwätz konnte sie nun überhaupt nichts anfangen.
„Ja, das Sieb, das Gezeitensieb. Es hat mich eingesogen! Ich konnte weder vor, noch zurück! Es war, als ob das Ding mich nicht mehr loslassen wollte. Und überall waren die fiesen Söldner und kämpften erbarmungslos mit meinen Freunden, Wondraczek, dem Wolf und der Bärin Veronica!“
„Ein Wolf und eine Bärin?“, fragte Lucy entgeistert. Der Kleine musste wohl wirklich den Verstand verloren haben, dachte das Mädchen, und Mitleid schlich sich in den Blick, mit dem sie nun Simon bedachte, doch der ließ sich dadurch in keinster Weise stoppen. ‘Das kann nur von diesen MMORPGs kommen. Jungs eben.’ Sie tippte insgeheim auf World of Warcraft!
„Ja, doch! Veronica und Minzbender! Und Wondraczek natürlich! Eben waren sie noch da, und dann zog es mich von ihnen weg!“
„Das Sieb hat dich also von deinen Freunden weggezogen?“ Lucy versuchte, ihrem Tonfall eine beruhigende Note zu verleihen. Sie sprach nun genauso, wie sich in ihrer Vorstellung eine gute Therapeutin anhören sollte. Schon immer hatte sie dieser Berufsstand fasziniert und insgeheim spielte sie mit dem Gedanken einmal eine solche Laufbahn einzuschlagen. Das lag gewissermaßen in der Familie.
„Ja doch, das Gezeitensieb! Ich weiß, kaum jemand hat schon mal etwas davon gehört. Das ist mir schon klar. Schließlich haben wir ja auch schrecklich lange gebraucht, um herauszufinden, wo es sich befindet!“ Der Junge schien immer noch vollkommen neben sich zu stehen.
Unterhalb der alten Eichen befand sich eine Ruhebank für die Bürger von Eschenfeld, die erst seit kurzem in einladendem frischen Grün erstrahlte.
„Beruhige dich, Kleiner“, meinte Lucy dann. „Setz dich doch erst mal hin! Oder besser, streck' dich hier einmal aus und schließe deine Augen!“
Sie redete jetzt schon auf eine Art und Weise, die ihr selbst absolut hypnotisch vorkam. Dies schien jedoch alles keinerlei Wirkung auf die Aufgeregtheit des Jungen zu haben. Immer wieder lief er zwischen den Stämmen der Zwillingseichen hin und her und tastete wie ein Pantomime in der Luft herum. Diese Form künstlerischer Darstellung war Lucy immer schon äußerst befremdlich vorgekommen. Ihre Freundin Sophie, die eine Walldorfschule besuchte, hatte ihr schon einmal ihren Namen vorgetanzt, an diese peinliche Situation erinnerte sie jetzt das Gebaren des Knaben. Daher versuchte sie nun, ihrer Rolle einen professionelleren Anstrich zu geben, setzte sich selbst auf die Parkbank, kramte aus ihrem Rucksack ein schwarzes Notizbüchlein mit rotem Rücken heraus und klickte schon einmal aufmunternd mit dem Kugelschreiber, wie sie es oft bei ihrer Oma hatte beobachten können.
„Nun setz' dich doch endlich mal hin!“, meinte sie dann und fiel mit dieser ungeduldigen Bemerkung sofort wieder aus der Rolle, die sich doch eben erst zurechtgelegt hatte.
„Genau hier war das Sieb! Und jetzt? Nichts mehr! Wo sind denn nur alle hin?“, rief Simon wieder und deutete auf den leeren Raum zwischen den Baumstämmen.
‘Dies schien wirklich ein schwerer Fall zu sein’, dachte Lucy wieder. ‘Das kommt garantiert nur von diesen bekloppten Rollenspielen im Internet. Wenn man den halben Tag lang als virtueller Elf oder Hobbit durch die Gegend strolcht, musste das ja irgendwann einmal böse enden.’
Wie viele Mädchen ihres Alters, konnte sie kaum Verständnis dafür aufbringen, wie ihre männlichen Altersgenossen gemeinhin ihre Tage verbrachten. Ihr war ein gutes Buch allemal lieber, um ihren Eskapismus auszuleben.
„Nun setz dich und beruhige dich erst einmal, Kleiner!“ Sie brachte es durchaus fertig, ihrer Stimme Autorität zu verleihen.
Simon gab es jedes Mal einen Stich, wenn ihn jemand Kleiner nannte, doch diesmal schaffte er es darüber hinwegzusehen, fügte sich endlich seiner neuen Bekannten und ließ sich neben ihr nieder.
„Recht so“, meinte die junge Dame, die augenscheinlich in Trauer war, wie Simon jetzt dachte. Warum sonst würde ein junges, gutaussehendes Mädchen sich so düster kleiden? Lucy kramte erneut in ihrer Tasche, brachte eine große schwarzgerahmte Brille zum Vorschein und schob sich diese dann auf die Nase.
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