„Es ist nur so ein Gefühl, aber es kommt mir vor, als ob ich schon sehr lange nicht mehr geträumt habe.“
Wir sehen uns an. Wir wollen spiritueller werden – und können uns nicht mal an unsere Träume erinnern?
„Muss ja nichts bedeuten“, sage ich. „Aber wir sollten das mal im Auge behalten.“
Wir packen die Kerzen ein und die Decke. Wir schweigen. Die Nacht umhüllt uns, es ist still und so dunkel. Als wären wir verschluckt worden. Ich hab einen komischen Kloß im Hals, ich will nicht darüber sprechen. Jakob am Baum. Vielleicht kriegen wir Visionen, weil wir nicht mehr wie alle anderen Leute den Schlaf mit Träumen verbringen.
Als ich unsere Haustür aufschließe, ist es fast zwei Uhr nachts, aber Mama steht im Flur. Ich bin richtig erschrocken, weil sie sonst immer schläft. Selbst wenn ich in die Bierbörse geh oder ins LIT . Sie schaut nie nach, wann ich zuhause bin. Und auch jetzt fällt ihr nicht mal meine Fahne auf. Sie sagt nur: „Ja, dann mal Gute Nacht, Lu. Habt ihr schön gespielt?“
Als käme ich gerade aus der Sandkiste. Seltsam. „Ich bin 16, Mama!“
„Ich meinte die Musik!“
„Ach so!“
„Ja dann... - Ach Lu, das wollte ich fragen: gehören die dir?“ Und sie hält mir ein Paar Gummistiefel unter die Nase.
Orange, Grün, Blumen.
„Woher sind die?“ Verdammt! Woher sind die?
„Sind das nicht deine, Luise? Charlies Mutter hat sie vorhin vorbeigebracht. Sie war sich nicht sicher, ob du sie nicht vielleicht doch magst. Es kam ihr so vor, als hätte deine neue Freundin sie dir - na ja, womöglich ausgeredet.“
Das darf nicht wahr sein. Lisbeths Schuhe. Sie verfolgen mich. Ich nehme sie an mich. Her damit! Dankeschön! Alles supi! Gute Nacht!
Kaum ist sie weg, brech ich in Tränen aus. Ich könnte schreien! Und das geht nicht. Ich platze! Ich zerspringe!
Wir tappen immer noch im Dunkeln. Was hilft ein persönlicher Fingerzeig, die Zeit läuft, und die Stiefel ... -
„Luise, alles in Ordnung?“ Mamas Stimme aus dem Gästezimmer.
„Jaaaa, ich bring noch schnell den Müll raus!“
Und das mach ich. Okay. So schnell geb ich nicht auf. Diesmal weigere ich mich stur, in Panik zu verfallen. Sunshine hatte recht. Es liegt in unserer Hand. Es muss so sein. An das Gute Glauben . Alles wird gut! Aber man muss es eben richtig machen. Am besten gleich verbrennen.
Obwohl, nein! Auf gar keinen Fall Feuer!
Überhaupt, am besten auch gleich mit dem Rauchen aufhören! Ich geh auf direktem Weg zum Altkleidercontainer.
Als ich die Klappe aufziehe - ein herzzerreißendes Quietschen, das die nächtliche Stille zerschneidet - und die Schuhe auf Nimmerwiedersehen in die Tiefe rumpeln, weiß ich, dass ich das hier unterschätzt habe: Die Stiefel sind nicht so leicht zu entsorgen. Wir saßen unter dem Baum und haben auf 'ne Eingebung gehofft, dabei hatten wir sie doch schon längst: Die Wirklichkeit verändern. Und das ist der erste Schritt.
In sich gehen – ja, okay. Aber als erstes müssen diese Schuhe weg! Und auch das ist erst der Anfang. Wir müssen kämpfen, wir müssen aufräumen, und alle Bestandteile der Vision müssen verschwinden. Bei mir waren es die Stiefel. Das ist ein für allemal erledigt. Ein Motorradfahrer mit Helm ist bisher nicht gesichtet worden, aber wenn, werden wir uns mit ihm befassen und das Problem beseitigen. Also nicht den Typen, sondern das Problem, das er mit uns hat. Positiv kämpfen! Ich gehe den Weg zurück, hinten rum über Wiese und Garten.
Am Baum liegen noch die Weinflaschen, die Sunshine geklaut hat. Auch die lass ich verschwin-den. Wenn Papa das rauskriegt, ist Sunhine ganz und gar unten durch. Ich schieb die Flaschen in das Loch des Glas-Containers. Adieu, Sunshines Mini-Bar!
Als sie in den Glascontainer fallen und klirrend in tausend Stücke zerbrechen, durchzuckt es mich: Sunshine! Die schreckliche Erkenntnis, dass das einzige andere, ebenfalls in der Wirklichkeit aufgetauchte Mosaikteilchen Sunshine ist.
Aber wie könnte ich Sunshine fallen lassen und entsorgen, wie die von ihr geklauten Weinflaschen?
One is the loneliest number that you'll ever do
Two can be as bad as one
It's the loneliest number since the number one
AIMEE MANN
Ich hatte noch nie viele Freundinnen.
Der Container leuchtet rot auf, als mein Feuerzeug aufflackert und ich mir ne Zigarette anstecke. Eigentlich war Charlie meine einzige richtige, und ich war auch ihre beste Freundin. Aber sie is total beliebt und hatte immer auch noch ne Hand voll anderer Freundinnen im Schlepptau. Das passiert bei ihr einfach wie von selbst, sie ist wie ein Honigtopf, oder eine Kerze, um die die Bienen und Falter summen, ein wahnsinnig warmherziger, schöner menschlicher Magnet.
Seit Sunshine hierher gezogen ist, ist alles so anders. Kam hier an, wie ne dunkle Braut, zeigt allen ne kalte Schulter und will ausgerechnet in meine Band! Als die meine Songs singen wollte, war das unglaublicher, als jeder Traum. und es ist toll, dass jemand sein Maul aufreißt, um meine Worte rauszuschreien. Ja, schreien! denn, man muss schon sagen: so richtig toll singen kann sie nicht. Dabei hat sie beim Sprechen eine angenehme Stimme, hell und dunkel zugleich, wie Samt. Na ja. Panne-Samt. Aber das macht gar nichts! Mr. E von den Eels kann auch nicht wirklich schön singen - oder Tom Waits!
Ich habe zwei Freundinnen. Die sind wie Tag und Nacht. Und ich bin die Erde dazwischen. Erst hab ich das gar nicht gemerkt, weil Charlie und ich genau zu diesem Zeitpunkt zerstritten waren. Mehr als zerstritten. Und Sunshine füllte so genau die Lücke. Hab ich jedenfalls gedacht, weil es so viel um Musik ging, Proben, Songtexte durchgehen. Aha, wie meinst du das? Okay! - Cool! - Ich kenne das Gefühl genau! - Meine Musik ist eigentlich alles für mich. Da kam Sunshine wie gerufen. Is so!
Stark und unverwundbar. Schmerzfrei! Und bereit, den meinen hinauszuschmettern. Hätt ich mehr hingesehen, anstatt mir meinen Pony schwarz zu färben und über die Augen zu kämmen, und zugehört, anstatt Lügen rauszuschreien und Lieder zu jaulen, hätte Charlie keine Tabletten genommen. Es war so knapp! So verdammt knapp.
Seitdem rühre ich die Gitarre nicht mehr an. Jedenfalls nicht mehr in eigener Sache. Schlimmer als zu sterben, ist zu sehen, dass andere sterben, finde ich. Oder Möglicherweise zurückzubleiben. Weil das halte ich nicht aus! Klar hab ich auch Angst vor dem Feuer, in dem ich sterbe, aber aller Schmerz aus der Vision, ist ein Scheißdreck gegen den anderen Schmerz: Verlassen zu werden. Ich will nicht, dass Sunshine und Charlie sterben. Und ich ... ich hab mich ja wohl auch entschieden. Auch wenn das Leben Mist ist. Vielleicht wird’s ja noch.
Ich stehe immer noch vor dem Container, und blase einen perfekten Rauchkringel in die Luft. Das hat mir Jakob beigebracht. Eigentlich hab ich mit Rauchen nur angefangen wegen dieser Kringel, das fand ich schon immer schön. Der Ring wabert im Mondlicht, wird größer und dünner – es ist immer noch ein Ring, dann löst er sich in der Luft auf. – Scheiße! Ich wollte ja aufhören mit dem Rauchen! Alles was unser Leben verkürzen kann, fliegt weg. Und damit meine ich jetzt nicht: „Rauchen kann tödlich sein“. Ich meine: Alles, was Feuer verursacht, kann tödlich sein.
Ich werfe die Schachtel den Stiefeln hinterher.
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