Ich muss jetzt irgendwie doch lachen. Und nehm einen Schluck aus der Flasche.
Der Wein ist super. Ich mag sonst keinen Wein, aber der ist total mild, fast wie unser Messwein.
„Das ist euer Messwein!“
Heilige Scheiße! Einen Moment lang hab ich das Bedürfnis, Sunshine ins Gras zu schubsen. „Du vergreifst dich an unserem Messwein? Du Monster! Du scheinheilige Atheistin!“ Erst kriegt sie echt'n Schreck. Ich roll mich über sie. „Charlie, hilf mir!“ Die erste Offenbarung der Nacht ist: Sunshine ist kitzelig! Total kitzelig! Und was für ne Lache! Wie befreiend! Wir wälzen uns auf der Wiese und kreischen und kichern und irgendwann liegen wir nur noch schlapp im Gras und sind atemlos. Ich weiß, das ist albern, aber ich hab Sunshine noch nie so ... privat erlebt!
Betrunken schon – klar! Aber Durchkitzeln ist vielleicht auch nicht verkehrt, wenn man jemand kennen lernen will. Und man muss sich doch auch kennen, wenn man was von einander will. Zum Beispiel spiritueller werden!
Inzwischen ist es dunkel, wir liegen sternhagelvoll unter einem sternenklaren Himmel und starren in die unendliche Nacht.
„Ich glaub, wia krieg'n heut kein ...“ Gott, je mehr ich versuch zu artikulieren, desto mehr lalle ich. “Kein ... persönlichen Fingerzeig!“
„Is jetzt auch schnuppe, du kriegst dafür ... mein persönliches ... Feuerzeug“
Charlie ist noch am nüchternsten. Sie sagt dauernd irgendwas und will, dass wir uns konzentrieren. Sunshine kichert wie ne Zehnjährige, ihre Stimme, die sich nie zwischen warm und hell entscheiden kann, schimmert.
„Du, Sunshine, deine Stimme schimmert“
„Ich will jetzt meine Offenbarung. Sofort!“
„Weißt du überhaupt, was ne Offenbarung ist?“, fragt Charlie.
„Keinen Schimmer!“
Sie entkorkt die dritte Flasche: „Das is die Bar -“ Plopp „Jetzt is sie offen. Offen-Bar-ung!“
Ich muss schon wieder lachen. Das ist der schlechteste Witz, den je einer gemacht hat.
„Wenn ihr wüsstet, wie sehr ich euch liebe! Vor allem dich! Aber dich auch! Aber dich noch mehr!“
Charlie und ich sehen uns an. Sunshine ist total blau. „... Und die Liebe, die is das einzige was zählt! Das kann ich euch auch sagen! So und jetzt sag ich nix mehr!“
Das ist der Moment, in dem ich meine Gitarre nehme. Eine zarte frohe Melodie, jemand geht vorsichtig eine Straße entlang, kickt 'nen Stein weg und wundert sich, wie schön das Leben immer noch ist, obwohl eigentlich alles total traurig ist. Mann, ich heul gleich!
„ You're dead but the world keeps spinning?
Take a spin through the world you left?
It's getting dark a little too early?
Are you missing the dearly bereft??
Taking flight and you could be here tomorrow?
Taking flight, well, you could get here tonight?
„Boah Lu, was für ein Song!“, sagt Sunshine.
„Der ist nicht von mir. Der is von den Eels!“
I'm gonna fly on down
for the last stop to this town
Momentan tröstet es mich mehr, die Texte von anderen zu singen. „Der handelt von 'ner toten Schwester, die ihrem Bruder nochmal erscheint“.
Die Eels sind meine Lieblingsband. Ich hab sie durch Jakob entdeckt. Der Song passt auf so viele Arten. Jakob, bitte! Wenn du noch einmal vor hast, vorbeizuschauen, dann wäre jetzt die Gelegenheit! Ich habe so viele Fragen, ich hab so viel Mist geredet, als du unter dem Baum standest. Jetzt wüsste ich, was ich wissen will! - Charlies erwartungvolle große Augen. Vielleicht kann die Melodie ja tatsächlich in die andere Welt dringen, in andere Räume, Zeiten. Ein letzter Halt in dieser Stadt, eine letzte Frage hätte ich... –
„Chhhhh“
„Jetzt ist sie eingepennt! Und auch noch laut!“ Charlie kniet neben Sunshine. Erst ratlos, dann plötzlich wie ein Angler, der unverhofft einen dicken Fisch am Haken hat.
„Sunshine ...“, haucht sie leise mit ihrer schönen Stimme, „Sunshine, Sunshine, Sunshine!“ Es klingt, als ob sie anklopft. Und irgendwie macht sie das auch, so wie: lass mich rein in dein Oberstübchen! Sunshines Mund steht ein bisschen auf. Sie sieht gerade wirklich bekifft aus, ihr Atem geht gleichmäßig. Mein Herz klopft tierisch, ich würde gern näher kommen, aber ich trau mich nicht. Der Augenblick wirkt so zerbrechlich wie eine Seifenblase, ich leg die Gitarre vorsichtig weg, einen Ton gibt es doch. Sunshines Gliedmaßen zucken, aber sie wacht nicht auf. Charlie wirft mir einen bösen Blick zu. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das in Ordnung ist, was sie da macht.
„Wer ist unser Feind? Was müssen wir tun?
Wer ist unser Feind?“ Erst ist das nur ne Frage, die Charlie der schlafenden Sunshine stellt.
„Warum sollte sie das wissen?“, frage ich jetzt sie.
„Sie kann ihn gesehen haben! Und irgendwen muss ich doch fragen!“ Sie wiederholt die Sätze, jetzt im Rhythmus, und weil der ein bisschen klappert, macht sie aus dem „unser“ ein „dein“:
Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?
Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?
Ich finde das jetzt doch ein bisschen gruselig. Aber es hat etwas Zwingendes; ich fang schon an, meinen Oberkörper in Trance zu wiegen. Ich muss an einen Zug denken, der über Schienen und Eisenbahnschwellen rattert. Ich stupse Sunshine vorsichtig an, eher ein ganz sanftes Schubsen im Rhythmus von Charlies Mantra:
„ Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?“
Und wirklich: plötzlich bewegt Sunshine ihre Lippen, es ist eher ein Murmeln, ebenfalls im Rhythmus der Sätze, die Charlie spricht.
„ Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?
Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?“
Ich beuge mich näher an Sunshine heran, um zu hören, was sie sagt. Ich sehe ihre Augen unter den Lidern sich bewegen, sie sieht vielleicht wirklich etwas.
„Wer ist dein Feind...?“ Ich wage nicht zu atmen. Das Mantra bricht ab. Ihr Oberkörper schnellt plötzlich in die Höhe.
„Sunshine, was siehst du?“
„Ich sehe, ich sehe, ich sehe … - Hey! dass meine Bahncard abgelaufen ist! Mein Feind ist die Fahrkartenkontrolle“
Betretenes Schweigen.
„Sehr, sehr schräger Humor! Ehrlich!“, sagt Charlie.
„Ihr seid schräg!“, sagt Sunshine ruhig.
Die Kerze flackert, eine Motte umfliegt das Licht und verglüht in der Flamme.
„Entschuldige mal, aber ... du lagst da so friedlich und es sah aus, als ob du träumst.“
„Vielleicht hätte ich ja geträumt, wenn du mich nicht schon wieder zugelabert hättest!“
„Es tut uns leid“, versuch ich dazwischen zu gehen, „das war...“
„Inceptionmäßig! Macht das nie wieder.“ Sunshine haut mit ihrer Handfläche eine Kerze aus.
Das war grenzwertig, stimmt schon. Der Moment, wenn du einschläfst, der ist irgendwie ein wunder Punkt. Da bist du so zwischen den Welten und so ausgeliefert. Und beim Aufwachen erst recht. Manchmal hängt man da noch im Traum fest, und der rutscht dann weg, obwohl man ihn gerne behalten hätte, und manchmal wiederum, kriegst du den Traum überhaupt nicht mehr aus der Birne, weil du blöd aufwachst. Es ist wie mit dem falschen Bein, mit dem man manchmal aufsteht. - Da fällt mir was Komisches auf. Ich weiß nicht, ob es zur Sache gehört, aber ...
„Sunshine, träumst du viel?“
„Ja. Nein. Keine Ahnung, was bei euch aufm Land so Standard ist!“
„Was war der letzte Traum, an den du dich erinnern kannst?“
„Ich glaub, ich hab in der letzten Zeit nicht viel geträumt!“
„Und du?“
Charlie überlegt. „Irgendwas von Linus, aber...“ Sie wird rot. „Nee das war in echt. Ich weiß grad nicht. Komisch eigentlich. Ich weiß meine Träume sonst immer!“
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