Kein vernünftiger Mann, der einigermaßen gesund im Kopf war, also buchstäblich keiner, höchstens vielleicht ein mit äußerst kaltblütiger Brutalität vorgehender, ja terroristischer Verbrecher, hätte eine echte Sexualpartnerin wissentlich der furchtbaren Gefahr einer spontanen Schwangerschaft ausgesetzt und damit die vielfältigen schrecklichen Komplikationen bewusst verantwortet, die für die Frau in den meisten Fällen einem Todesurteil gleichkamen. Und doch passierten hin und wieder, die Medien berichteten dann recht ausführlich im Tone volksschützender, mitleidiger Anteilnahme darüber, spontane Schwangerschaften, die einfach durch pures Nichtwissen und die grobe Missachtung der simpelsten Verhütungsanweisungen hervorgerufen wurden. Das konnte selbst dem Dümmsten mit Cybersex nicht passieren. Und das trug zur vollständigen Akzeptanz aller marktgängigen Praktiken natürlich ungeheuer bei.
Hinzu kam, dass nicht nur jeder und jede es tat, sondern auch alle freimütig darüber redeten. Es war ohnehin schon gesellschaftlich verpönt, sich über sein eigenes Sexualleben auszuschweigen, schon ein leichtes Rumdrucksen oder Zögern mochte den Verdacht abartiger Neigungen erwecken, wieso hätte derjenige, der mit Berichten und Erzählungen knauserte, sonst etwas verbergen wollen. Eine Weigerung, über die heißesten und neuesten Erlebnisse im Cybersex zu erzählen, und sei es auch in einer Runde mit kaum bekannten Personen, das wäre mehr als nur unanständig erschienen, es wäre lächerlich gewesen. So in etwa, als mache man ein Geheimnis daraus, in welchen Supermarkt man am liebsten ging. Was wäre denn ein Aspekt gewesen, dessentwegen sauberer und manierlicher, in den eigenen vier Wänden praktizierter Cybersex genierlich hätte sein sollen? Die wohldurchdachten Peripheriegeräte der Sextechnologie garantierten sowohl Frauen als auch Männern den Höhepunkt, wahlweise schnell oder nach längerer Anwendungszeit, alles eine Frage der Software und der gewählten Voreinstellungen. Jedem konnte der virtuelle Sex das bieten, was ihm gerade beliebte, man kann ja auch nicht an jedem Tag an dem immer selben Geschmack finden. Das Angebot an Hardware ebenso wie an Software war schlicht zu groß, als dass man ganz alleine den Überblick hätte behalten können, da war es sogar wichtig, sich im Freundes- und Bekanntenkreis auszutauschen und auf dem Laufenden zu halten. Das Netz bot allein an kostenlosen Downloads eine solche Vielzahl von Anwendungen, mit denen jeder nur erdenkliche Geschmack bedient werden konnte, die aber auch niemand selbst bei semiprofessioneller Beschäftigung mit Cybersex nach Art eines sehr in Anspruch nehmenden Hobbys alle hätte ausprobieren können. Viele der kostenlosen Programme wurden von Firmen gesponsert, sei es im Rahmen von Werbeauftritten auf ihren Homepages, sei es als Zugabe zu ihren Produkten und Dienstleistungen. Der größte Limonadenhersteller in der Paneupinia hatte gerade letztes Jahr für Furore gesorgt mit einer Programmserie „Kunstvolle Verwöhnungen“. Da gab es zu jeder Flasche Limo einen Zugangscode für eine von fünfhundert fantastischen Applikationen voller prickelnder Erfahrungen, wie es wortspielerisch in der Anpreisung sowohl der Limonade als auch der gesponserten Cybersexprogramme hieß. So etwas lag ganz im Trend, jeder machte ihn mit und niemand, abgesehen vielleicht von ein paar total verschüchterten Freaks, die so gar nicht mit anderen Menschen umgehen konnten, vergaß darüber die Bedeutung von echtem Sex mit echten Sexualpartnern. Das war freilich eine ganz andere Kategorie, für die jungen Männer in Adams Alter eine ganz andere Schwierigkeitsklasse.
Mädchen, junge Frauen, das waren von vornherein einmal ganz fantastischen Geschöpfe, aber eben auch ziemlich komplizierte. Es galt, sich behutsam an sie heran zu wagen und Ausschau nach der zu halten, mit der es möglich wäre, die im Cybersex erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten gewissermaßen in vivo zur Anwendung zu bringen. Das war nicht etwa deshalb schwierig, weil die jungen Frauen sich grundsätzlich geziert hätten, nein, sie hatten ja genau denselben Anteil an dem offenen Umgang mit Sexualität, virtueller und realer, aber in einem unterschied sich ihr gesellschaftlich akzeptierte und praktizierte Rolle stark von derjenigen der jungen Männer: Es wurde von ihnen erwartet, und die allermeisten kamen dieser Erwartung nur zu gerne nach, dass sie anspruchsvoll waren und das ihre sie umschwärmenden Verehrer auch deutlich merken ließen. Anspruchsvoll nämlich in jeder Hinsicht: Auf seinen allerersten Kontaktversuch reagierte sie vorzugsweise mit einer Anteilnahme kurz unterhalb kühlen Ignorierens. Das hatte er gefälligst sportlich zu nehmen, verlegen durfte es ihn freilich machen, aber er sollte bitteschön nicht meinen, er hätte sich nun genug bemüht und wenn sie nicht wolle, sei das nicht sein Problem. Nahm er es in dieser Weise auf, und das kam ja durchaus vor, dann war er schon im ersten Stadium der Prüfung durchgefallen. Ernst zu nehmende Kandidaten machten einen weiteren Anlauf, der dann immerhin mit so etwas wie einer kurzen Entgegnung belohnt wurde, und in weiteren Anläufen konnte er dann darauf hoffen, dass sie sich einladen und ausführen ließ, er ihr Geschenke und Aufmerksamkeiten zukommen lassen durfte, die sie mit mehr und mehr Zuwendung entgalt. Ab einem solchen Punkt bedurfte es für ihn auch keines großen Ideenreichtums mehr, um an sein Ziel zu gelangen, will heißen: eine wenigstens kurze Beziehungen einschließlich gutem und gerade in der ersten Zeit heftigem Sex, das ergab sich vielmehr wie von selbst, wenn er nur am Ball blieb und nicht zu früh meinte, ihr die Initiative überlassen zu können. Dass umgekehrt sie das Geschehen lenkte und antrieb, sie ihn gar gezielt verführte, es war demgegenüber schon möglich, aber eben außergewöhnlich. Und ein Abenteuer, wie Adam es die Nacht zuvor mit Carla Piyol erlebt hatte, das war ebenso wenig weder undenkbar noch anstößig. Derlei Romanzen eines jungen Mannes mit einer Frau, die älter als er selber war, waren Gegenstand manche erotischer Bücher und Filme. Aber dass so etwas im echten Leben passierte war nun einmal so wahrscheinlich, wie es eben unwahrscheinlich war, in der Handlung eines Films zu leben. Also ein unerhörter Glücksfall, und nun hatte ein eben solcher Glücksfall unseren guten Adam getroffen.
Wie er in der steigenden Morgensonne saß, behaglich erkennend, dass der Oberkellner den schlichten Café Crème im Gegensatz zu den am Nachmittag zuvor servierten Kaffeemischkreationen wirklich beherrschte, da gelangte er schnell zu der Überzeugung, dass es wahrhaftig keinen Anlass gab, über dieses fantastische Abenteuer in Carla Piyols Armen nachzudenken. Das wäre töricht gewesen, ein so wertvolles Erlebnis in rationelle Scheibchen zu zerschneiden und sie nach vermeintlich objektiven Maßstäben aufzuwiegen und zu vermessen und über ihre Bedeutung vernünftelnd zu urteilen. Ihre Anweisung, einfach nicht nachzudenken, war im richtigen Augenblick gesprochen und stimmte voll und ganz. Sie hatte auch jetzt noch Gültigkeit. Und entgegen allen Konventionen, von denen er genauso stark geprägt war wie seine Zeit- und Altersgenossen, fasste er im selben Augenblick den festen Entschluss, auch mit niemandem jemals über die vergangene Nacht zu reden. Weniger aus Rücksicht auf Carla, die ja offensichtlich gar kein Geheimnis daraus machen wollte, sondern vor allem, um eine zergliedernde Betrachtung auch in einer etwaigen Unterhaltung mit Freunden zu vermeiden.
Nachdenken musste er jetzt aber über Stella, da gab es einiges, worüber er sich klar werden wollte. Stella, sie war so wie Carla auch eine deutliche Abweichung von dem Frauenbild, wie er es als herrschendes kennen gelernt hatte. Auch sie zog sich nicht auf die Rolle der Dame zurück, um die der Verehrer werben musste, ehe er auf Erhörung rechnen durfte. Schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen vor nun schon drei Wochen war sie es gewesen, die von Anfang an die Situation kontrolliert hatte. Es war ungeheuerlich gewesen, zumal an einem Treffpunkt junger Männer auf der Pirsch, die sich am Ufer der Kirna an sonnigen Samtsagnachmittagen in Scharen aufhielten, wie Stella ohne ein Wort der Erklärung sich zu ihnen herüber getraut und aus einem beiläufigen Sich-Sehen eine bewusste Kontaktaufnahme gemacht hatte. Entsprechend tiefen Eindruck hatte sie dann ja bei den Jungs auch hinterlassen, wohl bei allen, außer ihm selber, wie Adam sich jetzt bei nochmaligem Nachdenken eingestehen musste. Er hatte da einfach noch keinen Blick für sie gehabt, immer noch unter Sandras Eindruck stehend. Was hätte er auch tun sollen, er war wirklich förmlich betäubt gewesen. Die jeweils auf eigene Weise missglückten weiteren Kontakte mit ihr, hatten nach und nach seine Aufmerksamkeit auf ihre Person gelenkt. An der Verabredung im Brauhaus war er schon ernsthaft interessiert gewesen und hatte nicht wenig Stolz darüber empfunden, die Initiative vermeintlich zurückgewonnen zu haben. Seinen Irrtum hatte er freilich schnell bemerkt, schon in dem Augenblick, in dem er zu der Verabredung im Brauhaus endlich, viel zu spät, erschienen war, war es für ihn unübersehbar, dass wiederum Stella das Geschehen vollständig kontrollierte. Es war allein ihre Entscheidung gewesen, die Verabredung trotz seiner dreisten Verspätung nicht platzen zu lassen, und dann hatte auch sie allein sich dazu durchgerungen, ihm sogar noch eine Chance zu geben, nachdem er ihr das Bier über die Hose geschüttet hatte. Hätte sie sich dazu nicht entschließen können, wäre sie schon in diesem Moment einfach aufgestanden oder gegangen, oder hätte sie ihn einfach den ganzen Abend über in kühler Verachtung zappeln lassen, sie hätte sich damit keinem berechtigten Vorwurf ausgesetzt. Indem sie es dennoch nicht tat, hatte sie ein weiteres Mal bewiesen, wie sehr ihr daran gelegen war, Adam näher zu kommen, ihn in ihrer eigenen, selbstbewussten Weise zu umwerben, und seine eigenen, zaghaften und vollkommen vertölpelten Werbungsversuche freundlich zu ignorieren. Diese Freiheit zur ganz und gar eigenen Entscheidung, ihrem eigenen Willen folgend und nicht auf das achtend, was er oder gar Dritte über sie denken könnten, das war es, was er seit dem Abend im Brauhaus an Stella mochte, ja bewunderte. Das hatte ihm die Augen für sie geöffnet. Erst danach, bei ihrem Wiedersehen im Lupinental und dann später auf der Rückfahrt in die Stadt, schließlich abends in bei ihr, hatte er auch wahrgenommen, wie schön sie war. Hatte sie da endlich Begehren in ihm geweckt? Wenn er ehrlich zu sich und nicht rücksichtsvoll zu ihr war, musste er das verneinen.
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