Adam nickte, ein wenig zu heftig, fühlte sich ertappt.
„Aber leider“ fuhr sie fort, „leider kann ich nur von der schönen Lage nicht leben. Wenn ich mich auf grelle Bergromantik verlegen würde, könnte ich damit womöglich zuverlässige Scharen alter Leutchen anlocken. Das sind für Hoteliers sehr beliebte Gäste, immer gut bei Kasse, und wenn sie es immer nur schön warm und gut verdaulich haben, auch sehr leicht zufrieden zu stellen. Aber das würde ich auf Dauer nicht aushalten, immer nur Grauköpfe um mich herum. Deshalb habe ich vor einigen Jahren ein Sporthotelkonzept aufgegriffen. Das erlaubt mir so etwas wie ein wenig städtischen Chic mit dem Reiz der Umgebung zu verbinden, und zum Glück muss ich nicht in jedem Jahr hohe Mindestumsätze aus dem Betrieb herauspressen.“
Adam nickte wieder, wiederum im besorgten Gefühl, ertappt worden zu sein. Obwohl er aufmerksam zuhörte, hatte er ihr Gesicht genau studiert. Ihre großen, hellen Augen, deren Farbe er im Schein der indirekten Beleuchtung und über den Schreibtisch hinweg nicht erkennen konnte, strahlten ihm entgegen, warme Farbpunkte, die ihren zarten, hellen Teint zu illuminieren schienen. Ihre Nase war ebenfalls zart, aber von vollkommener Form, genau so wie ihre vollen, in einem hellen rot geschminkten Lippen, die sich im Gespräch zu einem breiten Mund schlossen und öffneten und dabei kurze Blicke auf die Ahnung eines strahlenden Lächelns preisgaben. Anders als im Gesicht einer jungen Frau wie Stella (oder in einer schönheitsoperierten und zurechtgezogenen Fratze, wie man sie so häufig bei Frauen jenseits der dreißig sah), waren in Frau Piyols Zügen kleine Falten unübersehbar, die dem Ausdruck auf ihrer länglich-runden Gesichtsform die Lebendigkeit ihres Temperaments verliehen. Als sie geendet hatte, vermochte Adam sich nicht sofort von seiner Betrachtung loszureißen und eine kleine Gesprächspause trat ein.
„Aber nun bin ich schon wieder meinem Laster erlegen“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf, „und belästige Sie als meinen Gast mit meinem belanglosen Geschwätz. Dabei ist es für mich viel interessanter, etwas von Ihnen zu hören, wenn Sie mir etwas über sich verraten wollen.“
Adam erzählte ihr bereitwillig von sich, indem er von seine freiwilligen Dienstzeit im Regierungsamt und seiner Analyse kleiner und mittelgroßer Unternehmen berichtete. Geflissentlich überging er dabei, dass er sich erst seit Beginn dieser Woche mit der Analyse beschäftigte, was der sicher und gewandt vorgetragenen Darstellung den Anschein gab, als handele es sich um ein gründliches und lang angelegtes Forschungsprojekt.
„Wie bemerkenswert“, warf Frau Piyol ein und ein leiser Stolz durchglühte ihn in einem angenehmen Schauder. „Ohne Ihrem Dienstherren zu nahe treten zu wollen, muss ich doch zugeben, dass ich unserer Regierung die Behandlung so ernsthafter Fragen gar nicht zugetraut hätte.“
Vom Tresor her ertönte ein Piepen, die Tür entriegelte hörbar.
„Ah, endlich das Sesam-öffne-dich.“ Sie erhob sich und entnahm dem Tresor eine kleine Kassette. „Hier ist Ihr Token. Wenn Sie so aktuelle spannende Fragen in Ihrer Tätigkeit behandeln, ist es freilich kein Wunder, dass Sie auf das Netzwerk Acht geben müssen. Bitte schön.“
Sie ging um den Tisch herum, gab ihm den Token. Seine weltläufige Pose deutlich vernachlässigend sprang er auf und nahm den kleinen Chip mit dem zugeklappten Display entgegen. Unmittelbar vor ihm stand sie, er konnte ihren Duft, ihr Parfum im Einklang mit ihrem Zauber, ganz aufnehmen, und berührte ihre Hand einen Augenblick zu lang, als dass es nur eine einfache Geste der Übergabe des Tokens gewesen wäre.
„Vielen Dank“, murmelte er heiser.
„Keine Ursache, behalten Sie ruhig Platz.“ Einen Ausdruck freundlicher, gar nicht spöttischer oder herablassender Amüsiertheit, versuchte sie gar nicht zu verbergen, und ging wieder zu ihrem Schreibtischsessel zurück. Sie setzte sich und prostete ihm nochmals zu.
„Auf die glückliche Rettung also.“
„Ja, vielen Dank nochmals für Ihre freundliche Mithilfe.“
„Bitte sehr. Ich will Sie auch nicht länger aufhalten, wenn Sie gleich wieder zurückfahren wollten.“ Und als Adam stutzte, fügte sie hinzu: „Weil Sie schon so aufbruchsbereit dastehen.“
„Ach so, nein, Entschuldigung, ich war gerade nur... Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie schon immer hier gelebt haben.“
„Das nun nicht, aber über zwanzig Jahre sind es nun schon. Ich habe erst in dem Waldhaus-Hotel gearbeitet, weiter oben im Tal, und seitdem lebe ich draußen vor der Stadt. Es ist mir immer unpraktisch gewesen, zwischen der Stadt als Wohnort und dem Land für die Arbeit zu pendeln. Nicht so sehr wegen der Fahrtzeiten, aber wenn ich hier arbeite, dann will ich auch hier leben, und das geht nicht, wenn Sie zugleich versuchen, ein Freizeitleben in der Stadt zu führen.“
„Dann kennen Sie sich auch in der Gegend gut aus?“
„Gewiss, es ist das Privileg von uns Hoteliers auf dem Land, zu jeder Jahreszeit die Wälder und Hügel erkunden zu können. Vor dem Frühling und nach dem Spätsommer haben wir die Wege und Steige oft ganz für uns allein.“
„Ist es Ihnen nicht manchmal etwas unheimlich?“
„Unheimlich? Nein, gar nicht. Wo sollte es hier einen unheimlichen Winkel geben?“ Sie fragte mit echtem Erstaunen.
„Nicht hier unten im Tal, aber ich habe auf der Herfahrt heute Nachmittag gesehen, weiter oben auf der Anhöhe steht der Wald doch sehr dicht, selbst die Straße ist schon fast überwuchert.“
Sie lächelte, nicht nachsichtig wissend, sondern freundlich. „Das kann ich verstehen, wenngleich nicht nachvollziehen, dass das für Sie eine etwas seltsam anmutende Ecke ist. Ja, der Wald gedeiht da oben wirklich besonders prächtig, er ist für die Pflege der Landschaft ein besonderer Schatz. Ich bin auch nicht sehr häufig dort, für einen Fußmarsch von hier aus ist es etwas zu weit, aber wenn ich da bin, machen mir die Wege keine Angst. Was da im Wald lebt, lebt ganz für sich.“
„Und was lebt da?“
„Keine Menschenfresser jedenfalls.“
Und so spann sich ihr Gespräch fort, Frau Piyol beantwortete seine Fragen nach ihrem Leben hier draußen und er erzählte ihr auf ihre Gegenfragen davon, wie gerne er mitten drin in der Stadt wohnte. Die Getränke waren geleert und sie wurden durch ein Pfeifen wie von Wind und ein Geräusch schwankender Bäume unterbrochen.
„Also doch“, sagte Frau Piyol, „auf den Wetterbericht ist eben Verlass. Es ist ein Sommersturm mit für heute Nacht vorhergesagt, vielleicht kommt mit dem Wind sogar ein Gewitter auf.“
„Dabei sah es heute gar nicht nach Gewitter aus“, bemerkte Adam.
„Ich weiß, aber hier draußen kann es etwas schneller umschlagen als in der Stadt. Sagen Sie, wollen Sie wirklich noch heute Nacht zurückfahren? Ich will Sie natürlich nicht davon abhalten, aber die Route bis zur Schnellstraße kann bei Sturm nicht ganz ungefährlich sein. Gerade die Stelle, von der wir gerade sprachen, da wo die Straße direkte durch den dichten Wald führt, ist leider nur selten weit genug von brüchigem Geäst freigeschnitten und jedenfalls derzeit weiß ich nicht, ob da nicht doch etwas herunterkommt. Da hilft Ihnen dann auch kein Verkehrssystem etwas.“
Die Vorstellung, bei Sturm durch den nachtschwarzen Wald zu fahren, nahm sich im Vergleich zu der Möglichkeit, hier im Hotel zu übernachten und morgen früh die Gelegenheit zu haben, Frau Piyol noch einmal wiederzutreffen und vielleicht ein weiteres Mal mit ihr zu plaudern besonders wenig einladend aus.
„Sie wären natürlich mein Gast, nicht mein Hotelgast. Der Sturm ist keine Akquisemethode von mir, um spätnachts noch einen Übernachtungskunden zu ergattern.“
„Das ist wirklich sehr freundlich.“ Adam sah sich um, als könnte er in ihrem Büro etwas entdecken, was ihm aus seiner Unschlüssigkeit helfen könnte. Aber hatte er sich denn für den Rest des Abends etwas anderes vorgenommen, als so schnell wie möglich nach Hause zurückzufahren und sich noch eine Weile wegen des abrupten abgebrochenen Rendezvous mit Stella zu bedauern? Dann konnte er eben so gut warten, bis es wieder hell war, und dann in aller Ruhe in die Stadt zurückfahren.
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