Nur noch zehn Meter bis zum Auto. Schritt für Schritt. Da: Ein Schatten rechts!
Lautenthal blieb fast das Herz stehen. Vorsorglich hob er die Arme in Verteidigungsstellung. Kampfsport beherrschte er keinen, aber irgendwie würde er sich schon verteidigen. Doch es war nur ein Feuerlöscher. Noch fünf Meter bis zum Fahrzeug. Vorsichtig spähte er den daneben parkenden Jaguar aus. Er gehörte einem anderen Manager der ZTC, das wusste er, einem jungen Kerl, der sich heute Nacht nicht nach draußen wagte. Lautenthal griff instinktiv in seine Anzugtasche. Der Schlüssel war immer noch da. Ein flüchtiger Moment der Erleichterung. Er musste ihn unbedingt in Sicherheit bringen, die Zukunft der Company hing davon ab. In den falschen Händen könnte er das Ende der Welt bedeuten. Es waren nicht nur geheime Tormaschinen, zu denen dieser Schlüssel führte.
Endlich am Auto angelangt, drückte er den rechten Daumen auf die Türklinke. Der Sensor las seinen Fingerabdruck, und langsam entriegelte sich das Schloss — viel zu langsam, wie er fand. Lautenthal öffnete die Tür einen Spalt weit, schlüpfte hinein und setzte sich hinters Steuer. Schnell zog er die Tür zu. Als die Verriegelung hörbar summte und einrastete, atmete er tief durch. Lautenthal drückte die Starttaste für den Motor.
Im gleichen Augenblick schoss ein neuer Gedanke durch seinen Kopf: Die Zündung könnte eine Bombe auslösen. Unter dem Fahrzeug angebracht, würde sie ihn glatt durch das Dach sprengen. Er hörte bereits, wie der Motor mit einem sonoren Brummen zum Leben erwachte. Doch die Explosion blieb aus. Lautenthal atmete erleichtert aus, stellte die Schaltung auf DRIVE und gab Gas. Mit Höchstgeschwindigkeit jagte er aus der Tiefgarage, schoss einer Rakete gleich über den Hinterhof des Gebäudes, vorbei an den vier Schlägern. Sie lagen alle am Boden, rührten sich nicht mehr. Von Jessica fehlte jede Spur. Egal , entschied er, und steuerte seinen Wagen durch das Firmentor hinaus auf die Straße. Autos hupten, wichen in letzter Sekunde dem riesigen Gefährt aus. Lautenthal kümmerte es nicht. Hier ging es allein um sein Leben, das der anderen Menschen war nicht so wichtig.
Der Weg bis zum Adlon war nicht weit, rund drei Minuten Fahrzeit bei durchschnittlichem Verkehr. Das geschichtsträchtige Hotel war die einzige standesgemäße Unterkunft für einen Mann von seinem Rang. Sicherheitshalber hatte er noch Ausweichquartiere im Hilton, im Sheraton und ein paar anderen Luxushotels gebucht. Das war Anweisung für alle Mitglieder der Führungselite der ZTC.
Er konnte schon die alte Sandsteinfassade des Adlon sehen, als er von der Cora-Berliner-Straße in die Behrensstraße abbog. Gleich wäre er am Ziel.
»Immerhin haben Sie Stil, Herr Lautenthal, wenn Sie auch sonst ein Feigling sind«, meldete sich eine dunkle Männerstimme. Lautenthal entfuhr ein gellender Schrei und er stieg auf die Bremse. Neuerliche Panik ließ sein Herz rasen. Verzweifelt schaute er sich um. Die Rücksitze waren leer, ebenso der Beifahrersitz. Wo zum Teufel war diese Stimme hergekommen?
»Ja, das fragen Sie sich zurecht«, antwortete ihm die Stimme, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Verzeihen Sie, aber Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände. Darum will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen und Sie von Ihrem Martyrium erlösen.«
Als wäre Magie im Spiel, wurde der Beifahrersitz plötzlich lebendig. Ein Teil der Rückenlehne hob sich wie ein Arm in die Luft, das teure Rindsleder wurde von Fingern durchbrochen, die zur Kopfstütze hinauf griffen. Lautenthals Augen weiteten sich. Ein Reißverschluss wurde geöffnet, die Polster teilten sich und gaben einen menschlichen Kopf frei. Schwarzes, vor Schweiß triefendes Haar umrahmte ein hageres strenges Gesicht mit falkenhaften Zügen. Eisblaue Augen blinzelten kurz, ehe sie sich Lautenthal zuwandten.
»Erlauben Sie mir, mich vorzustellen: Ich bin Veyron Swift.«
Lautenthal spürte, wie sich eine warme Nässe in seinem Schritt ausbreitete.
»Si … sin … sind Sie hier, um mich zu … zu töten?«, stotterte er. Allmählich dämmerte ihm, dass der Mann nicht im Sitz steckte, sondern ein täuschend echtes Sitzkostüm trug. Das Halbdunkel des Fahrzeuginneren hatte geschickt all die schwarzen Stellen seines Anzugs verborgen, die den Aufzug als Verkleidung verrieten.
Plötzlich wurde die Beifahrertür brutal aufgerissen. Im gleichen Atemzug stürzte Jessica Reed ins Fahrzeug, die Vampirzähne gefletscht und ihre Hände mit messerscharfen Klauen bestückt. Ihre Krallen schlossen sich um Swifts Hals.
»Was ist das? Ein Beifahrersitz mit Mordabsichten?«
Dann schien sie Swift zu erkennen, stutzte und ließ von ihm ab.
»Veyron! Das sind nicht wirklich Sie in diesem Sitz, oder?«
Swift räusperte sich, während Reeds sichelförmige Klauen sich zu ganz normalen Fingernägeln verwandelten.
»Sie kennen diesen Mann?«, wimmerte Lautenthal.
»Das ist Veyron Swift. Wir haben schon ein paar Mal zusammengearbeitet. Veyron, was tun Sie hier?«
»Das Leben des Professors retten, Miss Reed. Leider haben Sie diese Bemühungen soeben unnötig erschwert«, erklärte Swift. »Das Objekt zwischen meinen Füßen verträgt bedauerlicher Weise keine starken Erschütterungen.«
Der Mann im Sitz beugte sich nach vorn und holte mit den Händen einen kokonussgroßen Gegenstand aus poliertem Aluminium hervor, den er sich auf den gepolsterten Schoß legte.
Reed wich zurück. »Scheiße«, japste sie. »Ist das eine Bombe?«
»In der Tat. Sie war ursprünglich unter dem Fahrzeug angebracht. Eine interessante Konstruktion. Das kleine Überraschungsei war nicht mit der Zündung des Motors verkabelt, sondern mit einem Erschütterungssensor.« Vorwurfsvoll wandte sich Swift an die Vampirin. »Durch das Aufreißen der Tür haben Sie den Zeitzünder der Bombe ausgelöst«, sagte er und drehte die Bombe so, dass Jessica ein kleines Display sehen konnte, auf dem Zahlen nach unten zählten. »Uns bleiben noch fünf Minuten. Ich schlage vor, Sie steigen ein, und Sie, Professor, geben Gas.«
Blitzschnell schwang sich Reed auf die Rückbank und trat Lautenthal kräftig in die Rückenlehne. »Gas geben, Dietrich!«
Lautenthal drückte das Gaspedal bis zum Anschlag. Immer wieder fielen seine Blicke auf die eiförmige Bombe.
»Konzentrieren Sie sich auf den Verkehr, Professor«, mahnte ihn Veyron. »Biegen Sie rechts auf die Ebertstraße ab, danach links auf Unter den Linden und schnurstracks zur Schlossbrücke.«
Wie ein Irrer überholte Lautenthal die wenigen Fahrzeuge, passend zu der Raserei seines Herzens. Weder Geschwindigkeitsbeschränkungen noch Vorfahrtsregeln interessierten ihn. Hier ging es um sein Überleben.
Vorbei am Brandenburger Tor, führte die nun schurgerade, mehrspurige Straße des 17. Juni raus aus dem Stadtzentrum. Lautenthal holte alles aus seinem Porsche heraus. Neben ihm begann Swift die Zeit runter zu zählen, Sekunde für Sekunde. Diesem Irren schien das sogar noch spaßzumachen.
»Hören Sie auf damit«, fauchte Lautenthal schließlich.
»Ich halte Sie auf dem Laufenden, davon hängt Ihr Leben ab«, erwiderte Swift und zählte weiter die Zeit runter.
Beim Großen Stern verlor Lautenthal wegen der Raserie die Kontrolle über seinen Wagen. Sein Porsche kam von der Fahrbahn ab, rammte beinahe ein anderes Fahrzeug. Schreiend steuerte Lautenthal gegen, raste nun jedoch direkt auf den prunkvollen, kreisrunden Platz mit der riesigen Siegessäule in der Mitte zu, mähte eine der Buchsbaumhecken nieder und rumpelte über ein paar Stufen am Fuß des Monuments, ehe der Porsche in die andere Richtung lenkte und wieder auf die Fahrbahn schoss. Lautenthal ruderte wie verrückt am Steuer und hatte sein Fahrzeug endlich auf der richtigen Spur.
»Rasen Sie doch nicht so«, meinte Swift kopfschüttelnd. »Wir haben noch zwei Minuten bis zur Explosion. Kein Grund, den Kopf zu verlieren.«
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