»Sie kennen Ihren Auftrag, Miss?«, wollte Noble schließlich von der jungen Frau wissen. In seiner Stimme schwang eine gewisse Skepsis mit.
»Ich sorge dafür, das Lautenthal kein Haar gekrümmt wird und er sicher sein Hotel erreicht«, erwiderte sie mit einem frechen Lächeln. »Ein Kinderspiel.«
Noble nickte zufrieden, klopfte Lautenthal aufmunternd auf die Schultern und zog sich in die Lobby zurück.
Dann kam der Moment, den Lautenthal so sehr fürchtete: Die Türen des Gebäudes schwangen auf, und er und seine Begleitung traten auf die Treppe.
»Bringen Sie mich nur schnell weg von hier, Fräulein«, winselte er, verzweifelt bemüht, es nicht wie ein Flehen klingen zu lassen. Seine Leibwächterin schenkte ihm ein freches Lächeln. Ihre weißen Zähne funkelten im Blitzlicht der Fotoapparate. Zum Glück sah sie nur ihn an, weswegen der Menge ihre spitzen Fangzähne verborgen blieben. Sie war ein Vampir; schnell wie ein Gepard und stark wie fünf ausgewachsene Männer. Vampire , dachte Lautenthal und schauderte ein wenig. Aber gut, das war der Preis, wenn man Tore nach Elderwelt öffnete. Dort wimmelte es vor fremden Wesen und magischen Geschöpfen. Vampire zählten fast noch zu den gewöhnlichsten Kreaturen.
»Dietrich … Sie sollen mich doch Jessica nennen, sonst funktioniert das nicht«, erinnerte sie ihn an den zuvor abgesprochenen Plan. Forsch hakte sie sich bei ihm unter. Wie eine Geliebte musste er seine Leibwächterin, Jessica Reed, die Stufen des Eingangsportals hinunterführen. Sie schien die Aufmerksamkeit von Medien und Demonstranten regelrecht zu genießen, winkte ihnen sogar noch vorwitzig. Lautenthal hätte sich am liebsten in die Hosen gemacht. Mit jedem Schritt schlimmer zitternd, ließ er sich von ihr quer über den Platz führen. Hinter dem Absperrgitter tobten die Menschen. Einige versuchten, das Gitter umzureißen, andere kletterten daran hinauf. Lautenthals Herz schlug bis zum Hals. Am liebsten hätte er um Hilfe gerufen.
Endlich erreichten Jessica und er die Ecke des Gebäudes und gelangten auf den dunklen Hinterhof. Ganz zu Lautenthals Erleichterung waren sie schnell raus aus dem Blickfeld der wütenden Menge, der ganzen Journalisten und Fotografen mit ihren nervigen Fragen.
»Na also«, meinte Jessica lachend und tätschelte seine Hand. »War doch gar nicht so schlimm, oder?«
Selbst wenn er gewillt war, darauf zu antworten, fehlte ihm im Augenblick die Kraft dazu. Er zitterte noch immer wie Espenlaub. Es fehlte nicht viel, und seine Blase hätte sich tatsächlich entleert — vor den Augen ganz Berlins.
Jessica Reed brach ob seines Gebarens in hämisches Gekicher aus. Lautenthal kochte innerlich vor Wut. Wenn er diesen Abend überlebte, würde er mit dem MCD ein ernstes Wort wechseln müssen. Warum stellte man ihm eine Vampirin als Leibwächterin zur Seite, die ihn nicht ernst nahm? Das hielt er für unprofessionell. Immerhin gehörte er zu den wichtigsten Köpfen der Company!
Eine Weile hörte er nichts anderes als das laute Klacken ihrer roten High Heels. Der Weg bis zu den Tiefgaragen war nicht mehr weit. Plötzlich hob Reed den Kopf, packte Lautenthal an den Schultern und schubste ihn zu Boden. Schneller als es je ein Mensch vermocht hätte, wirbelte sie herum. Mit ihrer roten Handtasche schlug sie durch die Luft, als wollte sie Mücken abwehren.
»Scharfschütze auf dem Dach! Bleib unten!«, rief sie Lautenthal zu, der panisch die Augen aufriss. Reed rannte los, einem Sturm gleich, der durch die Nacht tobte. Er sah sie die Fassade des benachbarten Gebäudes hinaufeilen, so schnell wie eine Raubkatze auf einen Baum kletterte. Dann war sie außer Sicht und alles war still. Lautenthal kam zitternd wieder auf die Füße. Vor seinem geistigen Auge spielte sie sich die Szene immer wieder ab. Hatte sie da vorhin etwa mit ihrer Handtasche Kugeln aus der Luft abgewehrt? Neuerlich schüttelte sich sein hagerer Körper. Auf allen Vieren kroch er bis zur kalten, fensterlosen Rückwand des ZTC-Gebäudes und machte sich dort so klein wie er konnte. Hoffentlich kam die Vampirin bald zurück.
»Guck mal einer an. Wenn das nich’ Professor Lautenthal is’«, eine finstere Stimme. Mehrere Gestalten lösten sich von der Wand. Lautenthal musste die Augen zusammenkneifen, um mehr zu erkennen. Vier riesige junge Männer kamen auf ihn zu, einer mit einem Baseballschläger bewaffnet, zwei weitere mit Klappmessern, und der vierte begnügte sich damit, die Arme zu verschränken. Sie hatten wohl die ganze Zeit dort schon gelauert, vielleicht waren sie ursprünglich als Lieferanten getarnt auf das Gelände gelangt.
»Hilfe!«, rief er mit lauter Stimme, heiser und zittrig. »Hilfe! Polizei! Polizei!«
Die vier Männer lachten boshaft. »Die hören dich nicht, Professor. Sind damit beschäftigt, den Sturm unserer Kameraden auf deine Firma zu verhindern. Wir warten schon den ganzen Tag auf dich, Arschloch«, tat der mit dem Baseballschläger kund, offenbar der Anführer. Lautenthal öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Laut heraus.
»Jungs, ihr werdet doch nicht etwa wirklich mitten in der Nacht auf einem schaurigen Hinterhof einen armen Opa verprügeln? Das ist ja richtig klischeehaft«, mischte sich jetzt Jessica Reeds Stimme mit ein. Wie eine Raubkatze, flink und geschmeidig, schlenderte sie über den Hinterhof und trat ins spärliche Licht der Hoflaternen. Lautenthal spürte unwillkürlich Erleichterung — etwa drei Sekunden lang. Der vierte Schläger fischte plötzlich eine Pistole unter seiner schwarzen Bomberjacke hervor und entsicherte sie.
»Verzieh dich, verdammte Hure!«, brüllte der Kerl. »Verfickte, elende Dreckshure!«
Jessica schmunzelte. »Wow. Ihr vier seid ja richtig süß.« Sie zeigte zum Dach gegenüber. »Euren Freund da oben habe ich ja schon kennengelernt. « Sie leckte sich die Finger ihrer rechten Hand; sie waren blutüberströmt. »Ein echtes Sahneschnittchen, wirklich köstlich.«
Die vier blickten in Richtung Dach; ein Fehler. Sofort befand sich Reed bei dem Typ mit der Waffe, drehte ihm mit nur einer Hand den Arm einmal komplett herum. Für sie schien das nicht schwerer zu sein, als einen Schlüssel umzudrehen. Es knackte schaurig, dann folgte furchtbares Geschrei. Die anderen drei Kerle wichen zurück, der Anführer schwang den Baseballschläger. Blitzartig wich Jessica aus, stürzte sich im gleichen Atemzug auf ihre Gegner.
»Hol den Wagen, Dietrich«, befahl sie ihm mit ruhiger Stimme, so als würde sie ihn lediglich zum Einkaufen in den nächsten Supermarkt schicken. »Und vergiss nicht abzusperren.«
Das ließ sich Lautenthal nicht zweimal sagen. Schnell wie nie zuvor in seinem Leben war er auf den Beinen und eilte in Richtung Tiefgarage. Jessica Reed folgte ihm nicht, sie lachte und machte sich anscheinend einen Spaß daraus, die übrigen Schläger über den Hof zu jagen. Er konnte nur noch ihr panisches Geschrei und Gefluche hören, als er die Rampe erreichte, die nach unten führte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was Reed mit den Kerlen anstellte. Ob sie ihnen nur die Knochen brach oder gar ihr Blut trank?
Nach und nach sprangen die Lampen in der Tiefgarage an. Für Lautenthals Geschmack viel zu langsam. Reed hatte ihn schon wieder allein gelassen. Hier unten konnten immer noch irgendwelche Schlägertypen lauern. Hastig blickte er von einer Seite zur anderen. Nur wenige Fahrzeuge parkten hier. Ganz hinten stand sein großer Porsche-SUV, ein kugelsicherer Geländewagen, vollgestopft mit allerlei technischem Schnickschnack.
Schritt für Schritt drang er tiefer in die Garage vor, untersuchte jeden Schatten, drehte sich nach jedem Geräusch um. Sogar zur Decke blickte er. Vielleicht hatte sich ja ein Attentäter dort versteckt? Konnte es sein, dass seine Feinde diese Schläger nur deshalb auf ihn angesetzt hatten, um seine Leibwächterin zu beschäftigen? Lief er hier etwa erst recht in die Falle?
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