„Weine nicht kleiner Stern, ich werde immer an dich denken.“
Sie blickte mich verzweifelt an. „Kann ich mir auch etwas wünschen oder ist das hier verboten?“
Der Engel war auch wieder an unserer Seite und nickte mir zu.
„Du hast einen Wunsch frei, aber nur einen einzigen. Also überlege es dir gut.“
„Ich wünsche mir, dich jeden Tag zu sehen. Du sollst eine Zeit lang mit mir spielen und reden. Auch wärmen und lieb haben sollst du mich. Und das so lange, bis meine Mami wiederkommt.“
Der Engel und ich sahen uns verdutzt an, denn niemand wollte freiwillig mit mir Zeit verbringen.
„Das geht nicht, ich kann nicht jeden Tag bei dir sein. Wer holt sonst die verlorenen Seelen und passt auf euch auf?“, antwortete ich ihr lächelnd. In mir tobte aber ein Sturm, denn sie wollte meine Nähe. Sie wollte mich …
„O. K., dann jeden zweiten Tag, aber das ist mein letztes Wort“, gab sie trotzig von sich.
„Ist das dein Ernst? Du kannst es dir noch einmal überlegen.“
Sie schüttelte ihren Kopf und stampfte mit dem Fuß auf. „Nein, das ist mein Wunsch, und er soll in Erfüllung gehen.“
Ich sah verwirrt zu dem Engel. Dieser machte sich schon auf den Weg, um nachzufragen, ob das gebilligt würde.
„Wieso tust du das?“, fragte ich sie bewegt.
„Weil ich dich lieb habe und du mir etwas bedeutest. Außerdem möchte ich dir zeigen, dass du ein Herz hast und fühlen kannst“, hauchte sie traurig.
Zärtlich küsste ich ihre Wange. „Danke für deinen Glauben und dass du noch Hoffnung für mich siehst.“
Ihre leuchtenden Augen und das liebevolle Lächeln entschädigten für die langen Gezeiten, die ich alleine leben musste. Sie war mein Schicksal. Dieses Mal würde ich es annehmen.
„Hier sind lauter Kinder und keine Erwachsenen. Warum sind alle Kinder gleich alt?“ Ihr Blick schweifte in den Hallen umher und suchte nach einem Erwachsenen.
„Das hier ist die Seelenhalle der verlorenen Kinder. Alle Kinder wurden den Müttern unter Zwang und Gewalt genommen. Es existieren eigentlich nur eure Seelen, kleiner Stern. Doch man steckte eure Seelen wieder in Körper, damit ihr euch heimischer fühlt. Normalerweise könntest du ja noch nicht einmal sprechen oder laufen. Du wurdest ja nicht einmal geboren. Doch hier seid ihr alle gleich.“
Sie lächelte plötzlich laut auf. „Nein, ich bin anders.“
Ich zog schmunzelnd eine Augenbraue hoch. „Wieso bist du anders?“
Sie nahm meine Hand. „Ich bin die Einzige, die einen Vater haben wird.“
Wie versteinert kniete ich vor ihr und wusste das erste Mal seit den Wegen der Gezeiten keine Antwort. Da kam der Engel wieder und bestätigte, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehe.
Sie fiel mir um den Hals. Langsam und behutsam legten sich meine Arme um ihren Körper. Ich schloss meine Augen und genoss dieses Gefühl. Wie nannte man dieses Gefühl nur?
„Wie heißt du überhaupt?“
Ich sah sie an. „So lange sprach niemand mehr meinen Namen, dass ich ihn vergaß.“
„Darf ich mir einen ausdenken?“
Langsam nickte ich ihr zu und doch war ich angespannt.
„Vater! Ich werde dich Vater nennen. Nur ich allein habe das Recht dazu.“
Ich sah zu dem Engel, der nur mit den Schultern zuckte.
„Wenn du es möchtest, kleiner Stern.“
Verzweifelt kämpfte ich gegen den Druck, der sich in meinen Augen aufbaute. Niemals würde ich weinen, denn das war nicht möglich.
„Ja, ich möchte es. Wir sehen uns also in zwei Tagen wieder, versprochen.“
„Versprochen.“ Noch eine letzte Umarmung, dann ging sie mit dem Engel fort. Der Kampf, sie nicht aufzuhalten und sie wieder in meine Arme zu reißen, war der schlimmste seit Beginn der Gezeiten.
Ich stand auf und schloss die mächtige uralte Holztür. Als ich in die Dunkelheit zurücklief, wusste ich nicht, wie mir geschehen war. Jeder Schritt fiel mir schwer und wieder rumorte es in mir drin.
Da vernahm ich die Stimme meines Oberhauptes.
„Warum hast du das getan?“
Ich blieb ruckartig stehen. Also bekam ich doch noch die Konsequenzen zu spüren.
„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ihre Seele ist etwas Besonderes und hat mich verzaubert. Anders kann ich es nicht erklären. Es ist, als würde mein verdammtes Leben endlich einen Sinn ergeben.“
„Du bist der Tod. Wie kannst du dich von einem Kind einfangen lassen? Gerade du, der kein Herz besitzt und kälter als die Eiszeit ist.“
Seine Stimme drang durch mich hindurch und ließ die Halle erbeben. Die uralte Kraft eines Schöpfers, der selbst am Hadern mit dem von ihm Erschaffenen war.
„Sie hatte keine Angst vor mir und blickte in meine Seele. Zum ersten Mal fühlte ich wieder etwas. Der kleine Stern gehört zu mir und ich kann nicht erklären warum.“
„Du, der Tod, Gefühle … ist das nicht etwas zu makaber?“
Ich drehte mich ruckartig um.
„Nur weil ich der Tod bin, heißt es nicht, gefühllos zu sein. Ich bringe Frieden und bei vielen sogar die Erlösung. Grausam sind die Menschen, nicht ich. Sie bereiten anderen schreckliche Schmerzen und brutale Tode. Sie sind es, die keine Gefühle haben, obwohl sie ein Herz besitzen.“
„Der Tod hat eben mehrere Gesichter. Das dürfte dir nichts Neues sein.“
„Nein, es gibt nur einen gerechten Tod und das weißt du auch selbst. Doch die Menschen, die du erschaffen hast, töten mit widerwärtigen Waffen oder mit ihren bloßen Händen. Und das auch noch in deinem Namen. Ist es nicht der Grund, warum du am Hadern mit deiner Schöpfung bist? Mit diesen Grausamkeiten habe ich nichts zu tun, mein Tod ist gerecht und human. Was Menschen angeblich aus Liebe tun, ist schlimmer als der Tod.“
Mein Oberhaupt war still geworden. Ich dachte schon, er hätte mich verlassen.
„Du bist weise geworden. Die Gezeiten haben dich verändert“, hallte seine Stimme erneut auf. Dieses Mal war sie mit Wärme getränkt. Und doch konnte ich seine Traurigkeit und Verzweiflung heraushören.
„Soll das ein Vorwurf sein, oder willst du mich bestrafen?“
Sein Lachen drang wie ein Donnergrollen zu mir.
„Nein, denn du besitzt mehr Herz als die ganze Menschheit miteinander.“
„Du hast mir mein Herz genommen, das ist dir aber schon noch bewusst, oder?“
„Ja natürlich, ich bin zwar so alt wie die Unendlichkeit, aber nicht senil.“
Jetzt mussten wir beide lachen und das löste die Spannungen auf.
„Ich habe dir dein Herz genommen, das ist wahr. Doch in deiner Seele hast du trotz allem Güte und Liebe Einzug walten lassen. Dieses Kind hat das Schloss zu deiner Seele geöffnet und ich gönne es dir von ganzem Herzen. Sie wird deine Tochter sein, auf ewig. Ich bin stolz auf dich, Tod.“
Ein letztes Nicken. Dann war ich wieder allein.
Doch werde ich niemals mehr allein sein, denn ich habe einen kleinen Stern. In zwei Tagen sehe ich sie wieder und das für die Ewigkeit.
Schon hörte ich den Ruf. Den Ruf nach dem Tod.
Eine weitere Kinderseele wurde geopfert.
Aber in meinen Hallen wird ihnen niemals mehr etwas passieren.
Sie waren sicher. Sicher und glücklich.
Genauso wie ich … wie der Tod.
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