Dieser Zusammenhang wird aber in der gesamten Bildungsdiskussion entweder gar nicht oder verzerrt thematisiert. Es wird weder hinterfragt, ob die in der Schule vermittelten Denkmuster überhaupt sinnvoll sind, noch ob und inwiefern sie überhaupt dazu berechtigt ist, die Kinder über die Wissensvermittlung hinaus zu „bilden“ im Sinne von „erziehen“. Stattdessen scheint sich immer mehr die Forderung durchzusetzen, die Schule als Lernort zugunsten einer allgemeinen Erziehungsanstalt umzufunktionieren. Der Tragweite dieser Vorstellung werden sich nicht einmal die bestimmte „alternative Lernmethoden“ naiv befürwortenden Eltern bewußt. Wird die Bildung von Vermittlung bestimmter Wissensinhalte auf die Erziehung des ganzen Menschen ausgeweitet und die Eltern in ihrer erzieherischen Funktion durch „Bildungsexperten“ und verschiedene „Pädagogen“ entmündigt, bedeutet es nämlich eine allmähliche Verwandlung der ganzen Gesellschaft nach eigenen Vorgaben in einem viel größeren Ausmaß, als dies durch immer neue gesetzliche Regelungen oder Manipulation der öffentlichen Meinung der Fall ist. Denn wer die Denkweise der Jugend beeinflußt, besitzt den Schlüssel zur Zukunft der Gesellschaft.
Ob dieser seitens selbsternannter Eliten angestrebte Bewußtseinswandel der Gesellschaft überhaupt legitim und von der Bevölkerung erwünscht ist, oder vielmehr einen unzulässigen Versuch darstellt, die Entwicklung der Gesellschaft ideologisch zu manipulieren, bleibt dahingestellt. Es ist jedoch nicht dasjenige, worüber während der gesamten Bildungsdiskussion gestritten wird. Kritisiert werden Fehlstunden, Klassenstärken, fehlende Schulmittel oder mangelnde Schulleistungen, und dem jeweiligen Sündenbockschema entsprechende Patentrezepte angeboten: Einheits- oder Privatschulen, Ganztagsschulen, mehr Unterricht oder mehr „Leistungskontrollen“. Wie die Kinder in der Schule unterrichtet werden und warum, liegt meistens jenseits bildungspolitischer Interessen oder wird gemäß eines ideologischen Musters festgelegt. Dementsprechend sind fast alle in den letzten Jahren vorgenommenen „Bildungsreformen“ entweder unsinnig oder verkehrt, insbesondere diejenigen, die als „Modernisierung“ präsentiert und hochgepriesen werden, ohne je nach ihrer praktischen Relevanz überprüft worden zu sein. Dadurch wird mehr Schaden angerichtet, als es bei anderem unverantwortlichen Handeln der Fall ist.
Die Hauptthese des vorliegenden Kapitels lautet: Unabhängig von den äußeren Bedingungen des Lernens und anderen Faktoren, wie negative Einflüsse der postmodernen Gesellschaft, sind es die reformierten Lehrmethoden, die für den Niedergang der Bildung verantwortlich sind. Diese „modernen didaktischen Methoden“ funktionieren nicht, weil sie von falschen Annahmen über den Menschen, dessen Lernbereitschaft und Lernfähigkeit ausgehen und eine für ganz andere Lebensbedingungen entwickelte Pädagogik an Schulen mit unterschiedlichen Lerntraditionen zwanghaft implementieren wollen. Dadurch verschlechtern sie nicht nur die Lernergebnisse der Schüler; auf die Dauer bewirken sie das Gegenteil des Erwünschten: Fleiß, Selbstdisziplin und Konzentrationsfähigkeit bleiben unterentwickelt, die Lernbereitschaft schwindet, Selbständigkeit, analytisches und systematisches Denken und Unterscheidungsvermögen verkümmern. Trotz schlechter Ergebnisse werden die bereits eingeführten Lehrmethoden nicht hinterfragt, sondern im Gegenteil lautstark propagiert und inzwischen auch auf die Berufsschulen und die Erwachsenenbildung ausgeweitet. Ihre flächendeckende Einführung bedeutet nicht nur eine nennenswerte Lernbehinderung, sondern auch eine Verdummung der ganzen Gesellschaft im katastrophalen Ausmaß.
Kinder sind unsere Zukunft; ihre Erziehung und Bildung ist die unerläßliche Bedingung für den Fortbestand unserer Gesellschaft, ja unserer Zivilisation überhaupt. Wir überlassen sie aber lieber selbsternannten „Fachleuten“, diversen „Bildungsexperten“ und „Fachpädagogen“ – Ingenieuren der menschlichen Seele, die meinen, mit ihrem Fachjargon die Problematik besser verstehen und regeln zu können, als es die Menschen immer schon getan haben. Zumindest so lange, bis wir eines Tages feststellen, daß wir und unsere Kinder einander nicht verstehen. Daß sie eine andere Sprache sprechen oder bei gleichen Begriffen etwas anderes meinen und in einer anderen Welt leben als wir. Dann ist es aber zu spät, ihnen erklären zu wollen, daß ihre Welt ein Trugbild ist.
1964 stellte Georg Picht seine Thesen von der „deutschen Bildungskatastrophe“ auf: Das deutsche Schulsystem befände sich in einem „Bildungsnotstand“; sein Kardinalproblem liege in einer zu geringen Abiturientenzahl. Demnach sollten das ländliche Schulwesen modernisiert, die Lehre besser vermittelt und die Zahl der Abiturienten verdoppelt werden. [1] Diese vermutlich gut gemeinten Thesen und die damit verbundenen Absichten, den Kindern aus ärmeren Bevölkerungsschichten eine bessere Bildung und damit mehr Aufstiegschancen zu ermöglichen, waren folgenschwerer als jede Kritik an anderen gesellschaftlichen Bereichen, nichtsdestoweniger nicht unbedingt in dem Sinne, wie es den Kritikern am traditionellen deutschen Bildungswesen erwünscht schien.
Nach Hans Heigerts Ansicht bestand in Deutschland seit der Zeit der Romantik und des Idealismus stets ein starker Drang, alles Politische pädagogisch aufzufassen. Der demokratische Staat stellt für einen Großteil seiner Bürger eine einzige pädagogische Veranstaltung dar, mit sorgenvoller Kritik an der öffentlichen Meinungsbildung. Da man jedoch stets von der Unmündigkeit der Bürger ausgeht und das Volk als Gegenstand der Erziehung auffaßt, entspringt diese Auffassung einem vordemokratischen, wenn nicht totalitären Denken. [2] Diese volkserzieherische Absicht findet man gewissermaßen auch in der Vorstellung wieder, ideologische Stereotype (beispielsweise über die Fremden) durch einen „pädagogischen Prozeß“ nationaler Aufklärung, „Einübung der Vernunft“ u.ä. überwinden zu wollen. [3] Daß das „pädagogische Ergebnis“ dieses Prozesses, trotz seiner kritischen Intention, selbst eine Art Ideologisierung bedeutet, war seinen Befürwortern offensichtlich nicht bewußt.
Ganz im Sinne dieser Tradition, in der sich die „Eliten“ insbesondere für die Volkserziehung zuständig glaubten, war die Pädagogik auch derjenige Wissenschaftsbereich, der Ende der sechziger Jahre am stärksten in das Magnetfeld linker Theorie geriet. Wie einst die aus der Erlebniswelt der Jugendbewegung kommenden Akademiker oft in pädagogische Berufe drängten, [4] so zog es auch die weltfremden Revolutionäre von 1968 wieder vorwiegend in den Bereich der Erziehung. Die linke politische Kultur fand ein neues Betätigungsfeld in der sog. „emanzipatorischen Pädagogik“ als Leitgedanken, während ihre politischen Thesen und Grundsätze auch in die offiziellen Rahmenpläne eingingen. [5] Damit setzte eine unaufhaltsame Entwicklung rasch aufeinander folgender Schul- und Bildungsreformen ein mit dem Zweck, durch Schaffung einer besseren Schulatmosphäre und antiautoritäre Unterrichtsmethoden die folgende Generation zu „emanzipierten kritischen“ Jugendlichen zu erziehen.
Dieses laut proklamierte Ideal hatte aber wenig mit der Realität der vorgenommenen „Flurbereinigung der Schule“ durch Zentralisierung und Aufbau diverser vorschulischer Einrichtungen, Jugendfreizeitheime, Einführung von Eingangs- und Orientierungsstufen, Förder- und Wahlpflichtfächern zu tun, die man im Zuge des Reformeifers der 60er und 70er Jahre nach dem Muster einer organisierten „gesellschaftsrelevanten“ Pädagogik einführte. Kritiker sahen in diesem Trend bereits einen dialektischen Umschlag der emanzipatorischen Pädagogik in ihr Gegenteil: eine Entfremdung des Kindes von seiner natürlichen Lebenswelt durch anonyme Massenanstalten, Verwandlung des Lehrers in Spezialisten und des Erziehers in Therapeuten, der seine unmündige Klientel in Anstalten innerhalb eines „progressiven Sozialisationsrasters“ sondert und ausgrenzt. Der Begründer der sog. „Antipädagogik“ Eckehart von Braunmühl bezeichnete diesen vermeintlichen pädagogischen Fortschritt der „missionarischen“ Bildungsreformer mit ihren abstrakten „Kompe-tenzen“ und „Problemlösungsoperationen“ als eine „Versklavung des Kindes“ und das Erziehungsgeschäft als ein „gigantisches, mit wissenschaftlicher Akribie aufgebautes und organisiertes Bordell“, in dem man Kinder prostituiere. [6] Der Philosoph Robert Spaemann meinte später, das Wort „Emanzipation“ habe einen Bedeutungswandel durchgemacht: Durch seine Verwendung nicht mehr in politisch-rechtlichen, sondern in soziopsychologischen und schließlich pädagogischen Kontexten habe sich dessen Sinn in sein Gegenteil verkehrt. Es bedeutet nicht mehr einen Status – die Mündigkeit, sondern ein tabuisiertes Ideal, das als Lernziel und Lernprozeß eine politpädagogische Legitimation zur neuen Bevormundung bietet. Die „emanzipatorische Pädagogik“ ist nach seinem Urteil im schlechten Sinne autoritär; es ist eine Herrschaftsideologie der Pädagogen, die die eigentliche Aufgabe – die Erziehung zur Selbständigkeit und starker Persönlichkeit – verfehlt. [7]
Читать дальше