»Haben Schweizerinnen keine Zunge?«
»He, he, du gehst ja ganz schön ran«, hauchte sie zärtlich, als sich unsere Lippen erneut trafen. Ich schloß die Augen, um mich dem Kuß ganz hinzugeben. Ich war unendlich froh, den Sprung ins kalte Wasser gewagt zu haben, und fühlte mich wie ein Fisch in seinem Element. Es folgte eine lange Serie von Küssen, zunächst weich, dann immer fordernder und verlangender. Ich ließ meine Hände über ihren Körper gleiten, ertastete ihre üppigen Brüste und spürte ihren pochenden Herzschlag. Die Frage nach ihrem Freund vermied ich.
Nachdem Susanne zu Bett gegangen war, blieb ich noch eine Weile auf der Terrasse sitzen und blickte in den sternklaren Himmel. Noch vor zwei Tagen hätte ich nicht daran geglaubt, daß es einen Menschen gäbe, zu dem ich mich hingezogen fühlte; vielmehr dachte ich, daß ich dazu verdammt wäre, meine Bahnen so einsam wie der Mond zu ziehen. Tausende von Theorien hätte ich vom Stapel gelassen, und nun war Susanne – mir nichts, dir nichts – in mein Leben getreten.
Anja, meine beste Freundin, hatte sich vor meiner Abreise nach Sevilla brieflich von mir verabschiedet. Sie hatte mir Glück und Erfolg gewünscht und vor allem, daß all meine Träume in Erfüllung gehen sollten. Hatte Anja geahnt, daß es ein Traum von mir war, jemanden zu finden, der mein Interesse wachrief? War es nicht genau das, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte? Selig schlief ich in dieser Nacht ein.
Ich stand sehr früh auf. Obwohl ich wenig geschlafen hatte, war ich hellwach. Es kam mir vor, als strömten ungeahnte Energien durch meinen Körper. Eine unbestimmte Kraft zog mich geradezu aus dem Bett.
Selbst die Putzfrau wunderte sich, als ich bereits um viertel vor neun am Morgen fertig angezogen in der Sitzecke der Eingangshalle wartete. Langsam erwachte die Residenz zum Leben. Türen klapperten, Toilettenspülungen und Duschen rauschten.
Kurz nach neun kam Susanne eiligen Schrittes die Treppen heruntergelaufen. Mit einem Lächeln kam Susanne auf mich zu und fiel mir in die Arme. Ich war glücklich, hatte ich doch befürchtet, sie hätte es sich nachts noch anders überlegt.
Sonnenschein und Vogelgezwitscher begleiteten uns auf dem Schulweg. Was für ein herrlicher Tag! Irgendwie lag Musik in der Luft. An welchem Ort sonst hätte es mich erwischen können, wenn nicht in Sevilla? Ich dachte an all die Opern, die Sevilla zu ihrem Schauplatz hatten: Mozarts Hochzeit des Figaro, Beethovens Fidelio, Rossinis Barbier von Sevilla und natürlich Bizets Carmen. So nach dem Motto, die Liebe verleiht dir Flügel, damit du fliegen kannst, und manchmal endet sie auch tödlich, sinnierte ich vor mich hin.
Dieses Kribbeln im Bauch war berauschend, als wir Hand in Hand zur Schule gingen. Ich mußte mich immer wieder von der Schwerkraft überzeugen. Ich hüpfte und tanzte. An diesem Morgen sah die Welt farbiger aus, selbst die alten Häuser wirkten nicht mehr so trostlos. Dieses Gefühl hätte ich am liebsten jubelnd allen verkündet, die mir auf dem Weg entgegenkamen.
Selbst Juan II, so hieß der Studienleiter, der für die grammatikalische Ausbildung zuständig war und nicht mit dem Wirtschafts-Juan zu verwechseln war, bemerkte einen wundersamen Wandel in mir, so als stünde die Botschaft auf meiner Stirn geschrieben. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, so sehr ersehnte ich die Pause herbei. Brian gratulierte mir zu meinem guten Geschmack. Er quittierte meine Wahl mit einem Lob.
Nach dem Unterricht kauften Susanne und ich Lebensmittel ein, kochten und erledigten nach dem Essen gemeinsam unsere Hausaufgaben auf der Dachterrasse. Ich konnte kaum den Blick von Susanne abwenden. Mir war fast schwindelig vor Glück.
Ich lernte Renate, Susannes Klassenkameradin, kennen. Susanne brachte sie zur Residenz mit, und wir aßen gemeinsam zu Mittag. Renate hatte das dringende Bedürfnis, Anschluß zu finden. Sie schien bereits in der Pause ein Auge auf Brian geworfen zu haben, denn sie erkundigte sich wiederholt nach ihm.
Abends gingen wir zusammen aus. Renate klebte an uns wie eine Klette. Sie fragte ständig, was wir noch vorhatten. Wir schlenderten über die Plaza del Salvador und genossen den sommerlichen Abend.
Später spürten Susanne und ich das Verlangen, alleine zu sein. Während die anderen noch weiterzogen, gingen wir zurück zur Residenz.
In meinem Zimmer ließen wir uns dann gehen. Küsse, Umarmungen, die immer leidenschaftlicher wurden. Ich hatte Lust auf körperliche Nähe.
»Hast Du Lust, mit mir zu schlafen?«
Die Frage schlug wie eine Granate in die traute Zweisamkeit ein. Sicher machte ihr verführerischer Körper Lust auf mehr, aber mit diesem Tempo hatte ich nicht gerechnet. Ich war ein wenig überrascht, daß Susanne diese Frage stellte. Normalerweise war ich es gewohnt, das Spiel zu dominieren. Leise Zweifel beschlichen mich. Dachte sie überhaupt an ihren Freund? Das ganze Szenario hatte etwas Unmoralisches an sich. Vielleicht sollte ich erst später mit Susanne schlafen, wenn ich sie näher kannte.
Ich willigte ein. Obwohl wir beide sehr erregt waren, klappte es nicht. Seltsamerweise belastete es mich nicht sonderlich, und Susanne gab mir auf eine behutsame Art und Weise zu verstehen, daß ich mich nicht als Versager zu fühlen brauchte. Ich dankte es ihr.
Susanne erkundigte sich, wann ich das letzte Mal guten Sex genossen hatte. Ich mußte lange in meinen Erinnerungen kramen. Es war Jahre her, was sie mir nicht so recht glauben mochte. Nun, ein erfülltes Liebesleben, in dem zwei Menschen wie gleichberechtigte Partner dastehen, hatte ich noch nicht kennengelernt. Es war immer ein Spiel für mich, in dem es um Beherrschbarkeit ging, aber sich so richtig gehen lassen, das war mir noch nie passiert.
Ich erkundigte mich, wann Susanne den Wunsch verspürt hatte, mir nahe sein zu wollen. Es war, ähnlich wie bei mir, die erste Begegnung, die dieses Verlangen ausgelöst hatte. Empfanden wir gleich?
Nachdenklich schlief ich in meinem Zimmer ein, nachdem sich Susanne verabschiedet hatte.
Den ganzen Tag hindurch begleiteten mich Zweifel. Wer war sie, was wollte sie von mir, wenn sie bereits in einer Beziehung lebte, und was erwartete ich von ihr?
Ich sah Susanne erst am späten Nachmittag. Ich begegnete ihr auf der Sor Angela de la Cruz, als ich in Richtung Hauptstraße zum Kiosk lief. Susanne lächelte schon von weitem. Ein wenig verlegen wegen der letzten Nacht, war ich schon. Susanne bemerkte meine Unsicherheit, hob ihre Sonnenbrille, küßte mich auf die Nase und sagte: »Es ist doch nicht so schlimm, dann versuchen wir es heute nacht eben noch einmal.«
Es klang, als sei es das Normalste der Welt, ohne jede Komplikation. Was für ein Mensch. Susanne schien heiter und lebensfroh zu sein, ein Kind der Sonne.
Abends lösten wir uns früh von der Gruppe. Susanne bewohnte in der Residenz ein Doppelzimmer für sich alleine, und so zog ich kurzerhand bei ihr ein. Wir legten einfach die Matratzen nebeneinander auf den Boden und schufen dadurch eine große Spielwiese. Wir stimmten uns ein, küßten, streichelten und umarmten uns.
Plötzlich ließ Susanne von mir ab.
»Stefan, was ist denn mit dir los?«
Ich begriff nicht, was sie meinte. Ich mußte ziemlich verwundert drein geschaut haben.
»Ich spüre einen Widerstand gegen mich«, sagte sie mit ernster Stimme.
»Ich verstehe nicht, was du meinst, ehrlich.«
»Doch, ich spüre es ganz deutlich, sag mir, was du hast!«
Hatte sie meine Unsicherheit bemerkt? Wie konnte das sein? Ich war ein Meister des Schauspiels und in der Lage, mich gut in Gegenwart anderer zu verstellen. Nie würde ein Außenstehender bemerken, was in mir vorging, wenn ich es nicht wollte. Ich hatte lediglich ein wenig an Susanne gezweifelt, wie konnte sie derart feine Schwingungen spüren?
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